Gesellschaft | Tagebuch aus Alpbach

Über den Rhythmus, der uns alle angeht

Junge SüdtirolerInnen in Alpbach schreiben darüber, was sie am Europäischen Forum Alpbach beschäftigt. Diesmal Lisa Hinter* über Trommeln und den politschen Rhytmus.
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Foto: Simon Pauly
 
Jegliche Bedenken um seine große Kuchenvorliebe trommelt sich Martin Grubinger im wahrsten Sinne des Wortes vom Leib. Bis zu 2000 Kalorien verbrennt der österreichische Profi-Schlagzeuger, wenn er mit einem Spitzenpuls von 196 und 1124 Trommelschlägen pro Minute die großen, bekannten Konzerthäuser in emotionsgeladene Klangwolken einhüllt. In Berlin und Wien, in Paris und München. Trommelschlag und Puls rasen bei Grubinger aber mindestens genauso um die Wette, wenn er als Sozialdemokrat den politischen Takt angibt, so wie an diesem Nachmittag beim Forum Alpbach. Einige Stipendiatinnen und Stipendiaten vom Club Alpbach Südtirol sind mit dabei.

 

Ich fühle mich wie "Bruce Allmächtig"

Das Tal entlang des Flusses Alpbach hat etwas Besonderes an sich. Für die einen sind es die Berge im schillernden Sonnenlicht, die saftig grünen Wiesen und Wälder oder gar die erfrischende Höhenluft auf der Gratlspitze. Für mich liegt der Zauber vom Forum Alpbach in Tagen wie diesen, wo sich Gemeinschaft, Offenheit und ein Gefühl von tief verwurzelter Standhaftigkeit in den Vortragsraum schleichen. Innere Kräfte wachsen – ich fühle mich wie „Bruce Allmächtig“. Den Motivationsfunken dafür versprüht Martin Grubinger – hier in Alpbach ausnahmsweise ohne seine polyphonen Schlagzeugrhythmen. Aber spätestens dann, wenn sich der junge Musiker in seinem Gästesessel quirlig hin und her dreht, mit seinen Fingern und Zehenspitzen den Metronomschlag angibt und seinen Kopf im Takt schwingt, wird klar: Grubinger ist der Rhythmus selbst, auch dann, wenn er in Alpbach als überzeugter Sozialdemokrat die Trommel wirbelt.
Trotz sozialdemokratischer Einstellung verschont der junge Österreicher die SPÖ nicht, im Gegenteil. Die Partei muss lernen, dass Österreich nicht an der Wiener Westausfahrt endet, sagt Grubinger. Vor allem in ländlichen Gegenden müsse politische Aufklärungsarbeit nachgeholt werden. Denn wenn Zugverbindungen, Ämter, Geschäfte und Arztstellen auf dem Land plötzlich aufgelöst werden – so wie in seinem eigenem Herkunftsgebiet, dem Hausruckviertel – sei es nicht verwunderlich, dass sich Österreichs Landmenschen von den Sozialdemokraten abgehängt fühlten. Von ihrem steuerlich finanzierten Rundfunk-Symphonieorchester Wien (RSO) bekämen sie ja ebenso wenig zu hören, außer sie reisten zu einem der wenigen Konzerte, die das RSO in Wien noch macht.

 

Der aufsteigende Dampf riecht nach Unsicherheit, Angst und Uneinigkeit

Und vor diesem dringenden sozialdemokratischen Handlungsbedarf heißt es dann noch resilient zu bleiben, als vereintes Europa. Resilient gegen den Druck seitens des transatlantischen Wirtschaftsmonsters zum einen und des östlichen Krim-Räubers zum anderen, während Brexit und Migrationspolitik Europa ohnehin schon zum Brodeln bringen. Der aufsteigende Dampf riecht nach Unsicherheit, Angst und Uneinigkeit – das sind Gefühle, die den nationalistisch orientierten Parteien wie der FPÖ das Wasser auf der Mühle sind, so Grubinger. Ihnen müsse der Wind aus den Segeln genommen werden. Im presto. Im presto prestissimo.
Der junge Schlagzeuger scheut diese Verantwortung nicht und will agieren. Wie denn? Als Musiker? Ich bin skeptisch. Seine Antwort lautet aber felsenfest überzeugt: Ja, als Musiker. Zusammen mit Musikfreunden will Grubinger an ländlichen Schulen Musikeinheiten anbieten, die Kultur damit auf das Land zurückbringen und zeigen: Österreich endet eben doch nicht an der Wiener Westausfahrt. Grubingers Musikprojekt scheint mir zunächst wie ein Tropfen auf dem heißen Stein. Doch ich will es mit einer Portion Idealismus probieren, die manchmal – nun einmal ehrlich – einfach gut tut: Wenn wir über unseren Tellerrand hinaus blicken würden, uns befreiten von dem Alltagsrad, das sich ohnehin nicht dreht und uns der Verantwortung als Europäer stellen würden, egal in welcher kleinsten Kleinigkeit – dann könnte jeder von uns dazu beitragen, Werte wie Offenheit, Zusammenhalt, Freiheit und Menschlichkeit zu säen.

 

Der polyphone Rhytmus Europas

Und um diesen europäischen Geist sollte es uns als kleine Nationalstaaten Europas schließlich gehen, wenn uns Herausforderungen von innen und außen zuströmen. Um jenen Geist, der nationsorientierte Diskussionen in ihrer Relevanz schlichtweg nichtig und klein macht. Und als verwurzelte Südtirolerin fällt mir dazu die Diskussion um den Doppelpass ein. Oder die ewig wiederkehrende Frage nach der Südtiroler Identität. Wenn wir unsere Wurzeln spüren, unsere Traditionen und Überzeugungen leben und auch jene anderer respektieren, dann sind wir resilient genug, Herausforderungen anzunehmen und Diversität mit ausgebreiteten Armen als Chance zu erkennen. Davon bin ich überzeugt.
Was Europa aus meiner Sicht also braucht, sind mehr Menschen, die zu Trommelschlägeln greifen und mit einem Spitzenpuls von 196 und 1124 Schlägen pro Minute auf die Pauke schlagen. Wir müssen Europa wieder einen Rhythmus geben, einen polyphonen, vielfältig klingenden und starken. Denn der Rhythmus Europas ist der Rhythmus unserer Zukunft und der geht uns schließlich alle an.