Gesellschaft | Interview

“Ich mache wohl alles falsch”

Die Gefahr aus dem Kinderzimmer und dem Handy: Raffaela Vanzetta weiß, warum junge Mädchen immer häufiger Essstörungen entwickeln.
Influencer
Foto: Artem Podrez on Pexels

Warum? Diese Frage stellen sich Außenstehende immer wieder, wenn es um Magersucht, Bulimie oder andere Essstörungen geht. Was treibt jemanden – in den allermeisten Fällen Frauen – dazu, über (Nicht-)Essen ihren Selbstwert zu definieren und ihre Emotionen zu verarbeiten? Seit Beginn der Corona-Pandemie trifft es immer mehr junge Mädchen. Warum? Auch wegen der sozialen Medien, weiß Raffaela Vanzetta von der Fachstelle für Essstörungen INFES des Forum Prävention.

salto.bz: Frau Vanzetta, Anfang Februar haben Sie aufgezeigt, dass die Anzahl der Klientinnen, die sich an INFES wenden, seit Beginn der Corona-Pandemie stark gestiegen ist: “Die Geschichte ist fast immer die gleiche: Sehr junge Mädchen, meist unter 15 Jahren, haben im ersten Lockdown im Frühjahr begonnen, ihr Gewicht und ihre Ernährung zu kontrollieren. In den folgenden Monaten entwickelte sich die Störung und jetzt ist die Situation so schlimm, dass die Eltern bei der Fachstelle INFES Hilfe suchen.” Hat sich dieser Trend fortgesetzt?

Raffaela Vanzetta: Ja. Wir haben in diesen ersten fünf Monaten so viele Beratungen gehabt, wie im Jahre 2019 erst im Oktober und 2018 erst Mitte November.

Sind es immer nur die Eltern, die Hilfe suchen?

Meistens ja, aber es kommen auch besorgte Schulfreundinnen, Lehrpersonen, Partner.

Wenn du einen “perfekten” Körper hast, dann bist du erfolgreich, reich, glücklich, findest den perfekten Freund, kannst reisen

Warum sind es vor allem junge Mädchen, die diese Störungen im Kontext einer Pandemie entwickeln?

Das hat mit der Pandemie wenig zu tun. Mädchen spüren einen viel stärkeren Druck als Jungen, einen “perfekten” Körper haben zu müssen. Jede Imperfektion wird in dieser Gesellschaft unter die Lupe genommen und kritisiert. Sehr viele Personen glauben das Recht zu haben, den Körper anderer Frauen zu bewerten, egal ob auf der Straße, am Strand, im Gespräch unter Freunden. Der Körper junger Frauen wird auf Misswahlen zur Schau gestellt und gewertet. Das schürt die Überzeugung, ein Mädchen MUSS einen Körper haben, der punktet, sonst ist sie nichts wert. Dazu kommt der Glaube, dass Körper machbar sind: Du brauchst nur einen starken Willen, viel Ausdauer und Zielstrebigkeit, dann hast du den Körper, den du willst. Somit wird der Körper Ausdruck deines Charakters: Hast du ein bisschen zu viel Fleisch auf den Rippen, bist du faul und träge und hast wenig Willenskraft. Schlanke Menschen sind diesem Glauben nach bessere Menschen.

 

Seit Beginn der Pandemie und den damit einhergehenden Ausgangsbeschränkungen verbringen wir alle mehr Zeit im Internet und auf sozialen Plattformen. Spielt das bei der Entwicklung von Essstörungen eine Rolle?

Ja, Mädchen, die in Beratung kommen, bestätigten mir das. Sie haben in diesem Pandemiejahr, trotz Unterrichtszeit online, viel mehr Zeit auf den Socials verbracht. Laut einer deutschen Studie waren es durchschnittlich über vier Stunden am Tag. Auf den Socials folgen sie oft jungen Mädchen, die ihren schlanken Körper zur Schau stellen und Trainingsprogramme vormachen, um den Körper zu formen. Die Mädchen teilen die Bilder, vergleichen sich, sehen die Makel am eigenen Körper und werden unzufrieden.

Diese Mädchen drehen banale Videos aus ihrem Kinderzimmer, machen Situps zwischen dem Teddybär und der Stereoanlage, mit dem Pyjama mit Einhörnern drauf

Instagram und TikTok verbieten bzw. sperren Accounts, die explizit Magersucht oder Bulimie fördern. Trotzdem grassieren Anleitungen, Ratschläge und praktische Tipps, um Gewicht zu verlieren. #whatieatinaday oder #whatieatinadaytoloseweight sind zwei Hashtags mit Milliarden an Aufrufen, unter denen TikToker zeigen, was sie an einem Tag essen. Jetzt könnte man sich fragen: Was ist daran schlimm oder gar gefährlich?

Ein Mädchen, das mir vor Kurzem über ihre Lieblinge auf Tiktok erzählt hat, hat folgendes bemerkt: “Sie fotografieren immer, was sie essen und das ist die Hälfte von dem, was ich esse. Ich mache wohl alles falsch.” Wir Erwachsene unterschätzen die Macht dieser Influencerinnen. Sie arbeiten mit Bildern und diese prägen unser Gehirn viel mehr als Worte. Sie haben dasselbe Alter und sind erfolgreich und berühmt. Einige von ihnen haben 120 bis 140 Millionen Follower. Das müssen Sie sich einmal vorstellen – das sind so viele wie die deutsche und die italienische Bevölkerung zusammen. Diese Mädchen drehen banale Videos aus ihrem Kinderzimmer, machen Situps zwischen dem Teddybär und der Stereoanlage, mit dem Pyjama mit Einhörnern drauf. Und sie sind erfolgreich. Die Message ist klar: Wenn du einen “perfekten” Körper hast, dann bist du erfolgreich, reich, glücklich, findest den perfekten Freund, kannst reisen. Dass diese Überzeugung auch ihre Unzufriedenheit schürt, ist den Mädchen nicht klar.

Wie stoßen Mädchen auf diese Accounts? Was fasziniert sie daran, also warum folgen sie ihnen?

Wenn du ein oder zwei dieser Account folgst, schlagen dir Tiktok und Instagram immer mehr ähnliche Accounts vor. Wenn du sie anschaust und Interesse zeigst, dann siehst du immer mehr davon.

Mädchen posten ein Foto mit Filter und bekommen ganz viele Likes – das prägt die Überzeugung, dass sie ungefiltert nicht schön genug sind

Neben der Ernährung spielen Körperpflege und Fitness eine große Rolle auf vielen Accounts, denen junge Mädchen folgen und die vermeintlich perfekte Frauen zeigen. Diese Videos und Fotos werden in ganz vielen Fällen mit Filtern bearbeitet und zeigen eine Realität und Personen, die es so nicht gibt. Ist das den jungen Userinnen bewusst?

Ja und nein. Sie wissen, dass die Bilder bearbeitet sind – und trotzdem prägt das ihre Wahrnehmung. Erst vorige Woche hat mir ein Mädchen in einer Schule erzählt, sie benutzt immer Filter für die eigenen Fotos und das Bild im Spiegel gefällt ihr nicht mehr. Es gibt heutzutage Filter, die die Gesichtsmerkmale verändern: sie machen weiße und gerade Zähne, einen schmäleren Hals, ovale Gesichter, größere Augen. Mädchen posten ein eigenes Foto mit Filter und bekommen ganz viele Likes. Das prägt die Überzeugung, dass sie ungefiltert nicht schön genug sind.

Wie helfen Sie diesen jungen Menschen, die sich an INFES wenden?

Wir versuchen ganz viel über diese Dinge zu reden. Ich lasse mir viel von ihnen erzählen und wir hinterfragen gemeinsam ihre Überzeugungen und Irrglauben. Wenn sie aber schon besessene Gedanken rund ums Essen und ihren Körper haben, braucht es meistens eine Therapie.

Was können Eltern, Lehrpersonen, Freunde oder Mitschüler machen, wenn sie bemerken, dass sich das Essverhalten eines Mädchens verändert?

Uns kontaktieren. Besser einmal zu viel als zu wenig.


Hier geht es zu den Kontakten der Fachstelle für Essstörungen INFES.