Kultur | Salto Afternoon

In die sich verfinsternde Welt

Zum Auftakt der Literaturtage Lana, die sich heuer dem Weltthema „Krieg und Frieden“ annähern, stellte man sich die Frage, welche Sprache sich für beides finden lässt.
Jurij Andruchowytsch
Foto: © Literatur Lana, Herbert Thoma
Elmar Locher, Präsident der Bücherwürmer, der Lanaer Bürgermeister Harald Stauder und Kuratorin Christine Vescoli machten mit drei verhältnismäßig kurzen Eröffnungsreden, die keine Wundermittel für das Problem hatten, den Anfang. So viel wurde gesagt: Bloß, weil die Mittel der Sprache unzulänglich sind für unaussprechliche Gräueltaten, macht das die stille Ohnmacht nicht zu einer Option, im Gegenteil. Wir müssen reden. Während Locher auf die Langlebigkeit und den Reichtum an Perspektiven des „Simplicissimus“ von Grimmelshausen verwies, sprach Harald Stauder von Erfahrungen, die er bei humanitärer Hilfe vor Ort nach dem Balkankrieg gemacht hat und die ihn nicht mehr losgelassen haben. Zugespitzt wurde das Thema schließlich von Vescoli, die das Gespräch zur Krux der Sache brachte und die eigene, privilegierte Position fern der Bedrohung des Krieges zu sein reflektierte, wie auch das Gefühl des Unwohlseins beim Sprechen, von etwas, das man selbst nicht erlebt hat. 
Eröffnungsgast Jurij Andruchowytsch relativierte sogleich die eigene Nähe zum Krieg, sowohl räumlich, als auch als Zivilist der lediglich zwei Jahre Wehrdiensterfahrung in der Sowjetunion habe. Der Autor, Essayist und Übersetzer, der zu den prominentesten intellektuellen und kulturellen Stimmen der Ukraine zählt, sprach mit der den Literaturtagen seit langem treuen Ilma Rakusa. Rakusa, Literaturwissenschaftlerin, Rezensentin bei der Neuen Zürcher Zeitung und, wie auch Andruchowytsch Übersetzerin, kennt den Schriftsteller schon lange: Zwischen zwei vom Autor vorgetragenen Auszügen aus seinem jüngsten, 2020 auf Ukrainisch, am 12. September bei Suhrkamp auf Deutsch (übersetzt von Sabine Stöhr) erscheinenden Roman „Radio Nacht“ gab es immer wieder den Sprung zwischen beiden Welten: Dem Frieden von Erinnerungen, wie einem gemeinsam verbrachten Geburtstagsfest oder einer Begegnung auf Reisen, sowie den neuen, durch den Krieg geschaffenen Realitäten.
 
 
In meiner Wahrnehmung rückt dabei der Roman in den Hintergrund, gerade, da sich Andruchowytsch für die Lesung genau für den Anfang von „Radio Nacht“ entschieden hat, der schon vorab auf der Verlags-Webseite als Leseprobe bereit stand. Aus der Perspektive zweier Ich-Erzähler, des „Barrikadenpianisten“ Josip Rotsky, der wie der Autor selbst Teilnehmer der Orangenen und der Euromaidan Revolution war und des ihm nachspürenden Biographen werden zwei Erzählstränge verwoben, die beide Monolog-Charakter haben. Dabei stehen wir durchwegs kritisch zu den Figuren, die keine Helden im eigentlichen Sinn sind, auch wenn Rotsky von Seiten der Revolution positive Eigenschaften zuschrieben werden. Was am Eröffnungsabend der Literaturtage Lana nicht zu hören ist, ist die in der Synopsis von „Radio Nacht“ zu erahnende Öffnung zu verschiedenen Schauplätzen, in der Schweiz oder in Griechenland, etwa. Die Figuren werden in einer ersten Annäherung recht statisch in die Erzählung gestellt. Neugierig genug das Buch zu erwerben wurde ich allerdings gemacht.
Was wirklich interessierte, waren die drei Dialoge von Andruchowytsch und Rakusa - einer vorab, einer zwischen die Perspektive von Rotsky und dem Biographen geschoben und einer am Ende: Von den Komplikationen der Ausreise, die selbst aus der Westukraine - Iwano-Frankiwsk, deutsch Stanislau - langwierig war, der neuen Bedeutung von Flugzeugen, sowohl durch die Abwesenheit ziviler Luftfahrt, als auch im Dauerbetrieb von Übungsmanövern über der Stadt, die Mütter verängstigten Kindern erklären müssen.
Andruchowytschs persönlicher Umgang mit der Ausnahmesituation Krieg und deren Einfluss auf sein Schreiben war auch Thema und brachte Überraschendes zu Tage: Trotz der starken Musikalität des Romans (es führt im Roman ein QR-Code zu Rotskys Playlist, den Songs, welche der titelgebende Sender „Radio Nacht“ spielt, auf YouTube) und der eigenen Mitgliedschaft in einer Band, Karbido, erlegte sich Andruchowytsch selbst ein Tabut auf: Er werde bis zum Sieg der Ukraine - die Begriffe Kriegsende oder nur Frieden lehnte er dezidiert ab - keine Musik hören. Er weigere sich außerdem, ein Tagebuch zu führen weil das die einzige Art sei, auf den Krieg zu reagieren und das alle seine Kollegen täten. Den Krieg habe er als Zäsur in seinem Schreiben erlebt - vom Folgeroman, so es denn einer werde und nicht eine Sammlung kurzer Geschichten, habe er gerade einmal zwei Kapitel geschrieben, auch da ihm in der Anfangszeit wegen der zahlreichen Kontaktanfragen seitens Journalisten kaum Zeit blieb. Die ersten Journalisten, welche sich nach seinen Erfahrungen hinsichtlich des Ukrainekriegs bei ihm Erkundigt haben, seien Taiwaner gewesen. Wahrscheinlich, um zu wissen wie das sei, wenn sich ein großer Nachbar zum Angriff entschließt, meint Andruchowytsch trocken.
Es habe seit dem russischen Angriff auch ein starkes Aufleben des groben, schwarzen Humors gegeben, im letzten halben Jahr meint Andruchowytsch, was, angesichts der Tonalität von „Radio Nacht“, auf sehr finsteren Humor hindeutet. Zum Thema Humor wurde auch die Figur des Präsidenten angesprochen, die bei Andruchowztsch noch ganz der Vorkriegspräsident ist, der zwar namentlich, genau wie das Land (Ukraine) nicht benannt wird, aber bei welchem der Autor doch bestätigte während des Schreibens an Selenskyj gedacht zu haben. Rakusa beschrieb den Präsidenten im Buch als Comedian, der umgeben von mafiösen Strukturen das Land regiert. Trotz dieses umschmeichelhaften Bildes sieht Andruchowytsch den Kriegspräsidenten Selenskyj als eine andere Person und in dieser Verwandlung keinen Treppenwitz der Geschichte, sondern, wie ein befreundeter Intellektueller: „Als einen Ausdruck, dass der Hegelsche Weltgeist mit den Menschen Schach spielt“.
 
Die Entstehungsgeschichte eines ersten Fragments, welches zum Schreiben von „Radio Nacht“ führte, war ein kleines Kapitel für sich: 2005, nach der Orangenen Revolution war gerade das Polnische Interesse an der Ukraine, auch in literarischer Hinsicht groß. Als Teil einer Lesereise nach Polen, die versuchte dieses Interesse zu nutzen war Jurij Andruchowytsch Gast in der Sendung eines von Studenten gestalteten Radiosenders, wo er sich von einer Frage überrascht sah: Welchen Beruf würde er ausüben , wenn er plötzlich nicht mehr schreiben könne? Andruchowytschs Antwort: Er wäre ein Radiomoderator, der die ganze Nacht traurige Musik spielen würde, ganz so wie die spätere Figur in seinem Roman. Einen Namen hatte der Autor damals schon für den Sender: Nicht Nacht, sondern Smutok (zu deutsch etwa: Melancholie). Da das Ukrainisch des Studenten allerdings schlecht gewesen sei, hatte dieser Small Talk verstanden.
Vielleicht bleibt uns oft nur das, um zu Unaussprechlichem nicht zu schweigen: Small Talk zu große Themen, Krieg und Frieden, auf die Gefahr oder Chance hin, dass sich das Gespräch beim Reden vertieft.