Gesellschaft | Erwerbsarmut

Not in der Mittelschicht

Die Caritas warnt, dass derzeit die Not auch in der Südtiroler Mittelschicht zunimmt. Bei einer Pressekonferenz berichtete man vom spürbarem Anstieg an Hilfsanfragen.
Beatrix Mairhofer:
Foto: Caritas
Im gewohnten, schmäler werdenden Schriftbild mahnt die neue Kampagne „Not ist näher als du denkst“ („La povertà è più vicina di quanto pensi“). Als erstes wies Direktorin Beatrix Maier auf den verstärkten Zulauf an „Menschen, die bisher der sogenannten Mittelschicht angehört haben“ bei verschiedenen Diensten der Caritas und nannte diese „Besorgnis erregend“. Die von der Caritas gestellten Dienste seien dabei „auch finanziell, wenn es denn sein muss, wenn es keine andere Lösung gibt“. Es werde, und darauf dränge man und fordere diese auch ein, langfristige Lösungen brauchen, zur Wahrung des sozialen Friedens und damit alle Menschen im Lande ein „Abkommen mit ihrem Einkommen“ haben können.
Stellvertretend für die Erstanlaufstelle, die Sozialberatung, wusste Mariano Buccella von den aktuellen Problemen der Menschen zu berichten: Alle Interventionen der Sozialberatung seien als Teil eines erzieherischen Projektes zu verstehen, welches auf die Autonomie der Menschen abziele. Bereits jetzt habe man mit mehr als 720 Personen (2021 war dies die Zahl des Jahres insgesamt gewesen) gesprochen, davon allein seit September 30 neue Hilfesuchende. Finanziell habe man im laufenden Jahr rund 70.000 Euro an Hilfestellungen zum Bezahlen von „Mieten, Rechnungen, Strom und anderes“ geleistet. Besonders zum Zulauf an Personen, die erstmals auf die Caritas zukommen trage, so Buccella, die Mieterhöhungen des Instituts für sozialen Wohnbau um „auch 200 Euro“ bei. Man rufe dazu auf, sich an die Caritas zu wenden, sobald sich das Problem zeige und nicht erst bis zur Zwangsräumung, dem Abstellen des Stroms oder dem Verlust der Arbeit zu warten, ab welchen die Hilfestellung sich schwieriger gestalte.
 
 
Petra Priller, Leiterin der Schuldnerberatung, verwies darauf, dass nun zusehends „Menschen, die fleißig sind, eine Arbeit haben und ein Einkommen beziehen, eine Rente haben“ nicht mehr „in Würde“ bis ans Monatsende kämen. Neuerdings bräuchten die Menschen auf Grund von Inflation und steigender Kosten für Gas, Strom und Lebensmittel „noch mehr Geld, das sie nicht haben“. Bis Mitte Oktober habe man bereits über 1000 Personen und Familien begleitet (Vorjahresstand: ca. 950 insgesamt). Man biete Schuldenregulierung an, versuche aber auch mit den Spendengeldern der Caritas Existenzsicherung anzubieten, bis Mitte Oktober in Höhe von etwa 110.000 Euro. Menschen würden sich zum Teil schämen zum Sozialdienst oder zur Tafel zu gehen, so Priller. Die psychologischen Aspekte der von arbeitenden Menschen oft als Demütigung empfundenen Not, versuchen man neben den finanziellen auch in der Beratung aufzufangen. Ein künftiges Problem, welches im Anschluss an die Konferenz zur Sprache kam, werde auch das Ansteigen von Zinssätzen im kommenden Jahr darstellen.
Brigitte Hoffmann, Bereichsleiterin „Caritas&Gemeinschaft“ gab wieder, dass auch aus den Pfarreien vermehrt von einem Anklopfen und Hilfesuchen berichtet wird. Die Pfarreien seien „fundamentale Antennen für die Region“, weil sie dort seien, wo auch die Menschen sind. Es gelte auch wachsam für die Not des Nächsten zu sein, um zu verhindern, dass diese Menschen in Einsamkeit geraten. Auf Papst Franziskus und den von ihm 2016 eingeführten Welttag der Armen am kommenden Sonntag verweisend, paraphrasierte sie den Pontifex: Es reiche nicht ein Assistenz-Verhalten, es sei nötig sich dafür einzusetzen, dass niemandem das Notwendige fehle. Hoffmann verwies auf vier Infoabende (Termine und Anmeldeinformationen hier).
Abschließend dankte Mairhofer erneut den Freiwilligen und rief zu Spendenbereitschaft am und über den Caritas-Sonntag hinaus auf. Salto.bz hatte im Anschluss noch vier kurze Fragen an die Direktorin der Caritas.
 
Salto.bz: Frau Mairhofer, wir haben nun gehört, dass der Bedarf an Hilfestellungen gestiegen ist. Zu Beginn des Jahres war die Spendenbereitschaft sicher groß, ist zu befürchten, dass man spendenmüde wird?
 
Beatrix Mairhofer: Wir haben bis zum Jahresende keine Daten dazu, aber die Erfahrung der Caritas hat gezeigt, dass die Menschen auch in schwierigen Situationen bereit sind, den Menschen zu helfen. Wir haben auch in den vergangenen Jahren mit schwierigen Situationen wie Corona gesehen, dass die Spendentätigkeit kaum nachgelassen hat. Deswegen hoffen wir doch, dass die Menschen weiterhin bereit sind den Nächsten zu helfen, weil wir ja doch in Südtirol viele Menschen haben, denen es gut geht.
 
Andererseits hören wir, dass gerade die Mittelschicht zusehends um Hilfe ansucht. War diese in vergangenen Jahren ein spendenstarker Bereich?
 
Man muss sagen, dass an die Caritas alle Schichten gespendet haben, von jenen, die sehr wohlhabend sind, bis auch zu Rentnern, die, schon in Bezug zu ihrem Einkommen doch helfen wollten. Da gibt es keine Differenzierungen.
 
Es braucht tiefergreifende, strukturelle Reformen, ob dies nun die Löhne sind, die seit Jahren stagnieren, aber auch in Bezug auf Preiserhöhungen, vor allem im Bereich Wohnen.
 
Haben Sie Wünsche oder Forderungen an die Politik, um den Menschen schnell zu helfen?
 
Schnell zu helfen versucht die Politik natürlich, mit Einmalzahlungen, diese sehe ich langfristig nicht zielführend. Es braucht tiefergreifende, strukturelle Reformen, ob dies nun die Löhne sind, die seit Jahren stagnieren, aber auch in Bezug auf Preiserhöhungen, vor allem im Bereich Wohnen. Da muss sicher eingeschritten werden, damit Wohnen wieder leistbar wird.
 
Wir haben gehört, dass die Caritas bestrebt ist, den Menschen wieder zu Autonomie zu verhelfen, sind Einmalzahlungen da der falsche Weg?
 
Einmalzahlungen sind nicht immer zielführend, weil diese manchmal nicht für das Notwendige verwendet werden, wofür sie gedacht wären, sondern in dem Moment, wo sie erhalten werden ausgegeben werden.
 
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Dietmar Nußbaumer Di., 08.11.2022 - 19:25

Seit Ronald Reagan in den 80ern dem Neokapitalismus Tür und Tor geöffnet hat, wurde die Verarmung der Mittelschicht prophezeit. Wenn die Reichen noch reicher werden, dann muss das andernorts ja fehlen. Auf der anderen Seite ist genau die Mittelschicht die Melkkuh des Staates.

Di., 08.11.2022 - 19:25 Permalink