Gesellschaft | Salto Paper

Zucker in Wunden

Warum kann im Schatten eines Quasi-Monopols eine bunte mediale Vielfalt gedeihen? Ein Blick auf die heimische Medienlandschaft aus dem deutschen Norden.
athesia.jpg
Foto: Youkando
Lokalmedien sterben selten mit Gebrüll. Meistens erlöschen sie langsam, wie Kerzenlicht unter einer Käseglocke, bis sie plötzlich einfach weg sind. Für immer Altpapier. Außerhalb von Südtirol merkt man schnell, was das bedeutet: In der deutschen Provinz verrecken die Zeitungen, Zeitschriften und Portale wie die Fliegen, kaum eine Woche vergeht, in der nicht irgendein Verlag neue Todgeweihte benennt – oder sie einfach still begräbt. Auch Tradition nützt in solchen Fällen nichts: Die Friedhöfe der Presselandschaft sind voll mit scheinbar „unersetzlichen“ Medien.
Medien, die sich für ihr Land, ihre Leute, die Hinter- und Nebenbühnen interessieren, sterben nicht so schnell.
Es gibt viele Theorien, an denen man das große Sterben festmachen kann und die meisten von ihnen sind wahr. Ja, die Geschäftsmodelle im Journalismus sind kaputt. Und ja, Instagram und Netflix sind plötzlich Mitbewerber im Kampf um Aufmerksamkeit. Aber das größte Problem von Lokalmedien waren nie die Bilanzen – sondern die grauenhafte Langeweile in der Berichterstattung, das Desinteresse an der Welt, über die sie berichten.
Da liest man gefällige Interviews mit dem Bürgermeister (Erste Frage: „Wie geht es Ihnen heute?“) und lange Pressemitteilungen von Vereinen, die unredigiert übernommen werden.  Zwischendurch ein Ministerbesuch, ein bisschen Fußball und fertig ist das Blatt. Wer soll das lesen? Wer dafür Geld bezahlen? Wer erzählt von diesen Artikeln am Frühstückstisch? Mancher Journalismus taugt nur zum Schuhe-Stopfen. 
Insofern erzähle ich gern davon, dass in Südtirol vieles anders ist. Im Schatten des Athesia-Quasi-Monopols sprießt hier seit mittlerweile Jahrzehnten das unzähmbarste Kraut. Man möchte meinen, dass ein Verlag, der weit mehr als zwei Drittel der lokalen Presse beherrscht, keinen Journalismus neben sich zulässt. Das Gegenteil ist der Fall: Ohne Athesia keine ff, keine Neue Südtiroler Tageszeitung und natürlich kein SALTO.  
 
 
Die ungewöhnliche Vielfalt der Kleinen liegt nicht etwa an der Herzlichkeit der Gebrüder Ebner, die das Kraut am liebsten rupfen würden – sondern an der selbstverschuldeten Tristesse, der entsetzlichen Lücke. Wie schreibt ein Dolomiten-Redakteur über Tourismus, solange sein Arbeitgeber Reisetouren anbietet und eine Therme beheizt? Wie berichtet er über den Klimawandel, solange Athesia über eine Gletscherbahn verfügt und Flüge vermittelt? Was schreibt er oder sie über die Handelskammer, über die SVP, über die Energie? Im besten Fall: Was den Chefs nicht gefährlich wird, man streut Zucker in Wunden. Im schlimmsten Fall: Überhaupt nichts. Anders gesagt: Eine typische Ausgabe der Dolomiten enthält mehr Interessenkonflikte als Todesanzeigen.
 
Spricht man Dolomiten-Chefredakteur Toni Ebner darauf an, sagt er stets, dass seine Zeitung immer nur „den Lesern verpflichtet“ sei. Man würde es ihm gerne glauben, gäbe er nicht selbst in aller Öffentlichkeit das Gegenteil zu: Unvergessen ein Auftritt bei einem runden Tisch der RAI vor fast genau einem Jahr. Ebner behauptete, auch seinem Blatt hätten die Abhörprotokolle in der SAD-Affäre vorgelegen – nur habe er sie eben nicht veröffentlicht. Ganz unabhängig davon, ob das stimmt: Welcher Chefredakteur würde freiwillig zugeben, die größte Geschichte des Jahres, den Kern der „Freunde im Edelweiß“, nicht gebracht zu haben? Welchem Leser ist er verpflichtet?
 
1_187.jpg
 Grafik: Ismaele Pianciola
 
Man schreibt dem Athesia-Konglomerat sehr viel Macht zu, dabei wirkt es neben der kleinen Konkurrenz oft erstaunlich verschüchtert. Wie sonst ist es zu erklären, dass SALTO (wie zahlreiche andere Südtiroler Medien) in den Dolomiten nicht einmal genannt werden darf? Dass der Verlag sechsstellige Verleumdungsklagen gegen SALTO anstrengt? Die größten Tiere beißen, wenn sie in die Ecke gedrängt werden. Und sie verdienen mehr Mitleid als Prügel – weil sie um ihr Leben fürchten.
 
Eine typische Ausgabe der Dolomiten enthält mehr Interessenkonflikte als Todesanzeigen.
 
Andere können gelassener sein: Wie jedes kleine Medium wurde auch SALTO in den vergangenen zehn Jahren oft totgesagt, immer waren die Nachrufe „übertrieben“, um mit Mark Twain zu sprechen. Medien, die sich für ihr Land, ihre Leute, die Hinter- und Nebenbühnen interessieren, sterben nicht so schnell, weil man sie nicht sterben lässt. Nicht solange es Menschen gibt, die SALTO lesen, die es verklagen, die am Frühstückstisch vom neuesten Artikel erzählen. Langeweile ist der Feind und SALTO bekämpft ihn entschlossen. Ein größeres Kompliment kann es für Journalismus nicht geben.
 
Anton Rainer ist nach journalistischen Stationen in Südtirol aktuell Redakteur im Wirtschaftsressort des SPIEGEL. 
 
 
Bild
Profil für Benutzer Hartmuth Staffler
Hartmuth Staffler Fr., 26.05.2023 - 08:57

Antwort auf von Günther Alois …

Verzeihung, als Journalist war ich überzeugt, dass "tiefgründig", als Gegensatz zu "oberflächlich", allgemein verständlich sei. Im journalistischen Sinne versteht man unter "tiefgründig", wenn ein Artikel den Dingen auf den Grund geht, also auch Hintergründe aufzeigt. Man redet auch von "investigativem Journalismus". Bei Bedarf bin ich bereit, auch diesen Begriff zu erklären.

Fr., 26.05.2023 - 08:57 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Hartmuth Staffler
Hartmuth Staffler Fr., 26.05.2023 - 17:49

Antwort auf von Peter Paul Ped…

Zwillingsgeburten sind bei Kühen höchst selten, so dass ein solches Ereignis durchaus eine Meldung wert ist. Mehr noch als die Touristen sind allerdings die Einheimischen an solchen Nachrichten interessiert. Leider ist der Anteil solcher "echter" Nachrichten auch in den "Dolomiten" zugunsten sogenannter "Events" zurückgegangen, aber diese Entwicklung betrifft den Lokaljournalismus im gesamten deutschsprachigen Raum, da bildet Südtirol keine Ausnahme.

Fr., 26.05.2023 - 17:49 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Hartmuth Staffler
Hartmuth Staffler Sa., 27.05.2023 - 07:52

Antwort auf von Günther Alois …

Ich habe nicht die Absicht, in den "Dolomiten" Wahlwerbung zu betreiben (für wen sollte ich das tun?). Ich war tatsächlich vor vielen Jahren Mitglied der SVP-Bezirksleitung Brixen, bin aber 1992 aus der Partei ausgetreten. Ich glaube nicht, dass dies meine Fähigkeit beeinträchtigt, als Journalist eine Lokalzeitung zu beurteilen, die grundsätzlich gut gemacht ist, auch wenn mir die derzeitige Ausrichtung nicht gefällt.

Sa., 27.05.2023 - 07:52 Permalink