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Eine Frage der Macht

Fesselungen und Fixierungen sind eine gängige Praxis, um Menschen in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken. Zu ihrem Schutz – heißt es.
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Foto: upi
Eine Frau in verwirrtem Zustand wurde am 8. März von drei Polizisten in Bozen vor den Augen der Öffentlichkeit zu Boden gebracht und mit Handschellen festgehalten. Warum es notwendig sei, mit solcher Gewalt mit der Frau umzugehen, fragten Demonstrierende eines transfeministischen Protests.
Der Frau ginge es nicht gut, sie sei ihnen bereits bekannt, halte den Verkehr auf, laufe gegen Autos, habe ihre Medikamente nicht genommen, sie müssten sie schützen ... Reichen diese Rechtfertigungen aus, um einen vulnerablen Menschen mit Gewalt über einen längeren Zeitraum in ihrer Freiheit einzuschränken? Wer entscheidet darüber, ob Gewalt legitim ist?
Um Frieden und Ordnung zu garantieren, hat allein der Staat die Macht und Legitimation, physische Gewalt anzuwenden. Ausüben darf der Staat dieses Gewaltmonopol allerdings nur zu vom Gesetz definierten Zwecken. Sowohl der anfangs beschriebene unmittelbare Zwang vonseiten der Polizisten als auch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit in Einrichtungen durch Fixierung mit Handschellen, Gurten und Ähnlichem sind Formen von Gewalt, welche nur unter bestimmten Umständen erlaubt sind.
Von Fixierung oder Fesselung (contenzione meccanica auf Italienisch, physical restraint auf Englisch) betroffen sind hauptsächlich pflegebedürftige Personen, die ohnehin schon sozial benachteiligt sind und aufgrund von gesellschaftlichen Barrieren weniger selbstbestimmt leben können: Menschen, die als alt, behindert und/oder psychisch krank kategorisiert werden. Viele sind sich ihrer Rechte nicht bewusst oder haben keine Möglichkeit, diese zu verteidigen. Wenn sich keiner für ihre Würde einsetzt, sind sie der gegen sie angewendeten Gewalt und deren Folgen oft schutzlos ausgesetzt.
 

Klare Rechtslage

 
Am 4. August 2009 verstarb Franco Mastrogiovanni, nachdem er 87 Stunden lang an ein Bett in der psychiatrischen Abteilung des Krankenhauses „San Luca“ in der Provinz von Salerno gefesselt worden war. Der Fall, der im Film „87 ore“ dokumentiert wird, kam vor Gericht. Das Urteil zum Fall Mastrogiovanni legte 2018 den Grundstein für die heutige Rechtslage zum Einsatz von Fesselungen: Laut Art. 54 des italienischen Strafgesetzbuchs ist der Einsatz von Gewalt nur dann nicht strafbar, also legitim, wenn ein Notstand besteht.
 
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Film 87 ore: Eklatanter Fall dokumentiert.
 
 
Die Kernelemente dieses Notstandes sind:
 
(a) die gegenwärtige Gefahr eines ernsthaften Schadens für eine oder mehrere Personen;
(b) die Unvermeidbarkeit der Gefahr andernfalls und
(c) die Verhältnismäßigkeit der Handlung.
 
Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit schützt die Betroffenen vor exzessiven Eingriffen – die eingesetzte Gewalt muss im Verhältnis zu einer „punktuellen” und „detaillierten” gegenwärtigen Gefahr stehen. Präventives Fesseln ist demnach nicht zulässig. Darüber
hinaus muss die Gefahr über einen längeren Zeitraum als solche wahrgenommen werden und setzt daher eine ständige Überwachung der betroffenen Person voraus.
Das Urteil des Obersten Gerichtshof zum Fall Mastrogiovanni präzisiert außerdem, dass körperliche Fixierung keine „medizinische Maßnahme“ darstellt, da der Eingriff weder Heilungszwecke verfolgt noch den Gesundheitszustand der Person verbessert. Die Fixierung hat eine bloße Vorsorgefunktion, die dazu dient, die körperliche Unversehrtheit der gegenwärtigen Person zu schützen. Ein Arzt, der eine Fesselung ohne Notstand vornimmt, begeht also eine Straftat.
 

Tiefgreifende Folgen für Betroffene

 
Der Strafbestand existiert nicht ohne Grund: Diese Art von Freiheitsentzug kann dazu führen, dass sich der psycho-physische Zustand einer Person stark verschlechtert. Fixierung kann zu direkten Verletzungen wie zum Beispiel Risswunden, Abschürfungen und Stauchungen führen. Indirekte Verletzungen hingegen umfassen Druckgeschwüre, Stürze und verlängerte Krankenhausaufenthalte. Franco Mastrogiovanni war weder der Erste noch der Letzte, der in einer Pflegeeinrichtung gefesselt starb.
 
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Franco Mastrogiovanni: Weder der Erste noch der Letzte, der in einer Pflegeeinrichtung gefesselt starb.
 
 
Zudem kommt: Wird die Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit einer Person eingeschränkt, gleicht die Verarbeitung dieser Erfahrung der Verarbeitung eines Traumas, da die Fesselung einen fragilen Zustand der Person impliziert. Wissenschaftliche Studien belegen, dass viele Betroffene später nicht wissen, was wirklich passiert ist und warum und von Zweifeln und Schuldgefühlen geplagt werden. In manchen Fällen werden Personen an der Befriedigung der eigenen Grundbedürfnisse – Essen, Trinken oder dem Besuch der Toilette – gehindert.
Die Wut, der Schmerz, die Hilflosigkeit und die schiere Demütigung, die Menschen durch Fesselungen erfahren müssen, können tiefgreifend sein.
Die Wut, der Schmerz, die Hilflosigkeit und die schiere Demütigung, die Menschen durch Fesselungen erfahren müssen, können tiefgreifend sein.
Die Scham über die Entwürdigung, die Betroffene aufgrund ihres Zustands durch die gewaltsamen Maßnahmen hinnehmen müssen, führt in vielen Fällen zum Schweigen. Dadurch werden sie auch nach der Zeit der Fesselungen, in der sie ohnehin nicht selbstbestimmt existieren dürfen, daran gehindert, sich für ihre Rechte einzusetzen. Zudem stärken Fesselungen den Widerstand gegen die Inanspruchnahme von psy* Diensten und die Stigmatisierung psychischen Leidens.
Werden Betroffene gewaltsam aus dem Entscheidungsprozess ausgeschlossen und wird kein Dialog mit ihnen angestrebt, kann sich das negativ auf das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen und dem Pflegepersonal auswirken.
 
Die Scham über die Entwürdigung, die Betroffene aufgrund ihres Zustands durch die gewaltsamen Maßnahmen hinnehmen müssen, führt in vielen Fällen zum Schweigen.
 
Die negativen Folgen reduzieren sich dabei nicht nur auf die zu pflegenden Personen: Eine rezente Studie im „Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing“ zeigt, dass Fesselungen schwerwiegende moralische Konflikte beim Pflegepersonal verursachen können. Um die Sicherheit aller ohne Fesselungen gewährleisten zu können, sind strukturelle Veränderungen, mehr Personal und Weiterbildungen nötig. Diverse Studien bestätigen aber auch, dass Momente der Unruhe bereits durch Zuhören und Verstehen besänftigt werden können – dies war auch bei der am 8. März gewaltsam festgehaltenen Frau der Fall.
 

Ohne Gewalt? Geht!

 
2015 prangerte die italienische Kommission für Bioethik die Fesselung von psychiatrischen Patienten und älteren Menschen in einer öffentlichen Stellungnahme an: Die Öffentlichkeit nehme das schwerwiegende Problem nicht ernst; es fehlten diesbezügliche Untersuchungen und Daten. Wir wissen aber, dass es möglich ist, auf die Fesselung von Menschen zu verzichten. Erfolgreich durchgeführte Programme zur Überwachung und Reduzierung dieser Praxis bestätigen diesen Hinweis. Die Psychiaterin Michela Nieri berichtet von den sogenannten „no restraint-Abteilungen“, wo ohne Fesselung und mit offenen Türen gepflegt wird. Hier sind Beziehungsarbeit und Kommunikation besonders wichtig. Laut Daten aus der psychiatrischen Klinik in Ravenna können durch den Abbau der Fesselungspraxis sogar Personalausfälle reduziert und Kosten eingespart werden, da Verletzungen verhindert und Aggressionen gegen das Personal reduziert werden.
 
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Psychiatrische Fixierung: In Italien werden aktuell aber nur in etwa 10 der 323 psychiatrischen Kliniken keine Fesselungen vorgenommen.
 
 
In Italien werden aktuell aber nur in etwa 10 der 323 psychiatrischen Kliniken keine Fesselungen vorgenommen. Zudem wird der Einsatz von Fesselungen trotz mangelnder gesundheitlicher Funktion noch immer ans Pflegepersonal unterrichtet. Laut Giorgio Bert, Arzt und Universitätsprofessor, ist diese Praxis eine gewaltsame Art der „Normalisierung“ von Seiten derer, die die Macht dazu haben, die Norm festzulegen. Betroffen sind hingegen pflegebedürftige Menschen, deren Interessen aufgrund ihres Zustandes und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Position kaum politische Vertretung finden.
 

Wo bleibt die Würde?

 
Pflegebedürftige Menschen sind Gewalt also häufiger ausgesetzt als andere. Noch wird der Einsatz von Fesselungen in Italien hauptsächlich im Zusammenhang mit psychiatrischen Kliniken thematisiert. Allerdings sind auch Menschen mit Behinderung(en) und ältere Menschen unverhältnismäßig stark von dieser Gewalt betroffen. Sie haben oft noch weniger Möglichkeiten, sich zu verteidigen. Es muss also ein Paradigmenwechsel stattfinden: Jegliche Art von Pflege und Hilfe muss dem Respekt, der Autonomie und der Würde der betroffenen Person unterge- ordnet werden. Die Grundlage muss die Wahrnehmung anderer als Menschen sein, sind sich die Bioethikkommission und Slegalosubito* einig. „Die Person in einer Krisensituation ist nicht ihre Störung oder Diagnose, sie ist nicht ihre Krankheit. Ich habe eine Person mit ihrem ganzen erlebten Leiden vor mir,“ bringt es Nieri auf den Punkt.

 

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Walter Neuschitzer Di., 13.06.2023 - 11:49

Es ist bedauerlich, dass gerade in der Psychiatrie haufenweise Fesselungen und andere Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Das liegt wohl auch daran, dass in der psychiatrischen Lehre oft die Menschen einfach als Tiere betrachtet werden.

Di., 13.06.2023 - 11:49 Permalink