Gesellschaft | Salto Gespräch

From Pussy with Amore

Gruppengespräch mit der absoluten Mehrheit (3 von 4) des Protestkollektivs Pussy Riot, das am Dienstag in Kurtatsch zu Gast war, zu Problemen in Russland und in Italien.
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Foto: Tiberio Sorvillo/Transart
Nachdem von einem, im besten Sinne des Wortes anstrengenden Konzert, vor allem die Bilder eines friedlichen, von der Band begrüßten Protests gegen ein Abschiebungslager in Südtirol durch die Medien gingen, hätten wir gerne mit Pussy Riot auch über dieses Thema gesprochen. Wir haben drei von vier, der nach Südtirol angereisten Aktivistinnen und Musikerinnen, am Nachmittag des Konzerttages interviewt. Als anstrengend bezeichnen wir ihre Performance deshalb, weil sie zum Nachdenken anregt, unbequem ist und Reibung erzeugt. Man könnte auch von Demokratie sprechen.
 
Pussy Riot, Sheraton
Pussy Riot: Maria Aljochina (links), Diana Burkot (unten) und Olga Borisova (rechts). Zum selbstgewählten Hintergrund fürs Gruppenbild meinten sie: „It's kitsch as fuck, that's why we love it!“ | Foto: Privat
 
Mitglieder von Pussy Riot haben in der Vergangenheit gesagt, dass Punk ein Mittel zum Zweck sei, um eine Botschaft zu übermitteln. Ist Punk-Musik, die etwas zum Guten wenden will, nicht immer ein Mittel zum Zweck?
 
Diana Burkot: Im Punkrock ging es immer um soziale und politische Themen und seit ach so vielen Jahren sei das Genre tot, aber nein: Es ist irgendwie erwachsen geworden und hat eine Verwandlung erlebt. Es ist ehrliche Musik, das ist sehr wichtig, dass die Musik wichtige Anliegen der Menschen aus dem Untergrund in Dialog mit der Öffentlichkeit bringt.
 
Maria Aljochina: Wir können nicht behaupten eine Punk-Rock Gruppe zu sein, weil das nicht so ist für uns. Für uns geht es beim „Punk“ darum, unbequeme Fragen zu stellen und gegen den Staat zu protestieren. Es geht nicht um die Musik, weil wir keine Musik-Band sind. Wir sind ein politisches Protest-Kollektiv, was etwas anderes ist.
 
Burkot: Es geht bei uns auch nicht nur um Musik. Es gibt etwa auch die Ausstellung, welche vor Kurzem in einem Museum in Dänemark gestartet ist, die Aktionen und weitere Mittel. Am Anfang stand der Aktivismus.
 
Die Kirche segnete das alles ab, wie sie auch jetzt russische Raketen segnet, welche die Ukraine treffen. Kyrill selbst nennt diese Invasion einen „heiligen Krieg“.
 
Zu großer internationaler Aufmerksamkeit kam das Kollektiv durch das „Punk Prayer“ und die Aktion in der Christus-Erlöser Kathedrale in Moskau. Man kann also sagen, euer Gebet wurde erhört, wurde es aber auch beantwortet? Haben Sie das Gefühl, dass es etwas in Bewegung gebracht hat oder ist es für Sie enttäuschend, wie festgefahren das russische System ist?
 
Aljochina: Wir hatten nicht mit internationaler Aufmerksamkeit gerechnet und einfach gegen die Zusammenarbeit von Kirche und Staat protestiert. Das war als Patriarch Kyrill, Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche und ehemaliger KGB-Agent für Wladimir Putins Präsidentschaft Werbung machte, zwei Wochen vor den sogenannten Wahlen. Anschließend wurden wir für unsere Aktion und unsere Statements inhaftiert und der Staat begann seine Verfolgungen auszuweiten. Mehr Menschen kamen ins Gefängnis und die Krim wurde im Jahr darauf annektiert.  Für unser Land war das ein Punkt von dem es kein Zurück mehr gab. Sie begannen Menschen zu vergiften und zu töten. Die Kirche segnete das alles ab, wie sie auch jetzt russische Raketen segnet, welche die Ukraine treffen. Kyrill selbst nennt diese Invasion einen „heiligen Krieg“. Uns ist es sehr wichtig, da für Sichtbarkeit zu sorgen, weil das ein grundlegendes Problem ist.
Russland hat einige Ähnlichkeiten mit Italien: Viele Menschen sehen sich, ohne dass sie in die Kirche gingen, als Christen, auch in Italien. Ohne Predigten zu folgen oder ein wirklich christliches Leben zu führen, sehen sie sich als Gläubige. Mit dieser Institution spielend, kann der Staat seine Unterdrückung stärken. Am Beispiel Russlands kann man gut sehen, wie das geht: Der Weg ist nicht so weit vom Autoritarismus zum puren Faschismus. Es hat nur etwa zehn Jahre gebraucht, bis Russland ein pures faschistisches Regime wurde. 
 
Burkot: Es ist sehr wichtig, das auch aus feministischer Sicht zu betrachten. Patriarch Kyrill rief kürzlich Frauen dazu auf, zehn Kinder zu bekommen, weil sie dann weniger traurig wären, wenn zwei davon im Krieg sterben. Einige Politiker setzen sich zudem dafür ein, Abtreibungen illegal zu machen und wir sehen an Polen und einigen Bundesstaaten in den USA, dass das möglich ist…
 
Aljochina: In Russland hat man damit schon begonnen. Es gibt einige Regionen in denen man praktisch keine Abtreibung vornehmen kann. Das ist wenig sichtbar, weil ein Krieg stattfindet und über andere Probleme gesprochen wird.
 
Ähnlich ist die Situation für Menschen der LGBTQ-Szene, die mit dem Krieg zu einem großen Teil aus der Wahrnehmung im Westen verschwunden ist, wenngleich das für LGBTQ-Personen in der Ukraine eine große Sorge ist. Wie groß ist die Gefahr für diese Menschen?
 
Burkot: Die russische Kirche sagt ganz klar, dass LGBTQ Personen weder natürlich, noch von Gott gewollt sind und schürt die Angst vor einem „Gay Europe“. Hinzu kommen Sexismus, Machismus und Patriarchale Denkmuster, welche die Köpfe der Menschen vergiften. Dieser Krieg ist ein Krieg der Männer.
 
Wie informieren Sie sich, als im Exil lebende Künstlerinnen, über die russische Propaganda und das, was wirklich im Land passiert? Welche Nachrichten müssen Sie ausblenden, wieviel muss man wissen?
 
Aljochina: Viele Menschen, darunter auch Künstler, leben nun im Exil. Ich denke für unabhängige Journalist:innen ist es die einzig mögliche Wahl. Wer über den Krieg schreibt, landet sofort im Gefängnis. Man hat also die Wahl, sich entweder selbst zu zensieren, ohne die Möglichkeit, den Krieg, einen Krieg zu nennen oder die Kriegsverbrechen Russlands zu thematisieren, oder man arbeitet aus dem Exil und versucht von dort eine russischsprachige Leserschaft zu informieren. Das ist eine sehr schwierige Entscheidung. Nadja und ich haben Mediazona gestartet, eines der ersten unabhängigen Medien, das über Polizei-, Gefängnis- und politische Gewalt, sowie über Gerichtsprozesse berichtet und zu einem der meist zitiertesten Medien des russischen Internets wurde. Die Redaktion arbeitet jetzt aus dem Exil. Das ist… hart. Die Mehrheit der Menschen hat sich entschlossen, nicht mehr über andere Probleme zu sprechen. Natürlich wollen wir, dass die Ukraine den Krieg gewinnt, aber die meisten Menschen sind stark traumatisiert. Wir wissen alle nicht, wie oder wann das einmal enden wird. Das ist schwierig. Niemand hat uns beigebracht, wie man in einer solchen Situation leben soll. Für uns war der Krieg etwas aus den Geschichtsbüchern. Als Russland zwei Kriegskampagnen gegen Tschetschenien geführt hat, waren wir noch sehr jung und verstanden nicht, was los war. Davor war der zweite Weltkrieg. Heute lernt man jeden Tag dazu, wie wir mit dieser Situation umgehen müssen.
 
Burkot: Ich denke, dass man sich vor Augen halten muss, dass viele in Russland wenig über Geschichte wissen. Der Krieg in Tschetschenien wurde mit denselben Mitteln geführt. Es wurde behauptet, dass dort keine russischen Truppen einmarschiert seien und es keinen Krieg gegeben habe.
 
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Pussy Riot: Erinnerung an politische Gefangene. Während einem Lied wurde für ein, zwei Minuten auf russisch „Freiheit“ skandiert. Mit jedem Schrei ein neues Gesicht im Hintergrund. | Foto: Tiberio Sorvillo/Transart
 
Hannah Arendts Zitat „Niemand hat das Recht zu gehorchen“, und das Motto von Pussy Riot „Anyone can be Pussy Riot“, bilden eine interessante Schnittmenge. Welche Mittel des zivilen Ungehorsams sind in Ihren Augen legitim?
 
Aljochina: Ich denke, es ist ganz einfach: Jeder kann sich eine Balaclava machen und eigene politische Aktionen starten, wenn sie oder er das Gefühl hat, dass das eigene Land ein Problem mit Diktatur oder anderen Ungerechtigkeiten hat. Ich kann nicht sagen, dass ich eine Expertin wäre, was die Situation in Italien anbelangt, aber ich verfolge die Nachrichten und gerade jetzt ist es wichtig jedwede politische Brücke zu Putin und seinem Regime einzureißen. Russland unterstützt Ultra-Rechte und oft auch Ultra-Linke Aktivist:innen im Ausland um Zwietracht zu stiften, gerade wenn es um Teuerungen durch Ölknappheit geht. Ich denke nicht, dass das aufhören wird. Mit Italien hat Russland langläufige Beziehungen die sehr nützlich sind für das Regime.
 
Burkot: Man darf auch nicht vergessen, dass auch nach dem Embargo von 2014, Italien weiterhin Kriegsmaterial an Russland, vor allem Landfahrzeuge an Russland ausgeliefert hat…
 
Ohne eine Protestkultur oder ordentliche Ausbildung können diese Personen kaum sagen: „Ich werde nicht kämpfen.“
 
Wie ist die Situation der Frauen und Mütter von Soldaten in Russland? Putin inszeniert sich gern an deren Seite. Erhalten Sie abseits der Kameras viel Aufmerksamkeit?
 
Aljochina: In Wahrheit wird ihnen wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Einige unabhängige Journalist:innen publizieren die Aussagen von Ehefrauen und Müttern, da während der Mobilmachung viele junge Männer zwangsrekrutiert wurden. Ich bin mir nicht sicher, wie sehr man das im Westen versteht, aber die Meinung eines einzelnen Menschen bedeutet in Russland gar nichts. Menschen können protestieren, kämpfen und laut sein, aber es führt zu nichts. Unabhängige Journalist:innen helfen, dass die Stimmen dieser Frauen lauter sind. Manchmal hilft das. Ich möchte nicht, dass meine Worte irgendwie als Unterstützung für russische Soldaten aufgefasst werden, ich möchte aber erwähnen, dass viele junge Männer zwangsrekrutiert wurden, von der Straße weg und aus den Universitäten heraus. Ohne eine Protestkultur oder ordentliche Ausbildung können diese Personen kaum sagen: „Ich werde nicht kämpfen.“ Einige haben das aber getan und sie landen im Gefängnis, mitunter für 15 Jahre, in denen sie auch Folter ausgesetzt sind.
 
Um von Propaganda vielleicht auf Musik, in diesem Fall Propaganda-Musik, zurückzukommen: Wie ironisch oder traurig ist es, dass der erfolgreichste Propaganda-Musiker Shaman, in seinem bekanntesten Lied „Ya russkiy“ („I’m Russian“) dieselbe Akkordfolge wie im Anti-Kriegssong „Zombie“ von den Cranberries verwendet? Welche Gedanken haben Sie zum Erfolg eines solchen Musikers?
 
Aljochina: Zwischen Shaman und den Cranberries habe ich bislang keine Parallelen gesehen, aber mir ist aufgefallen, dass einige seiner Musikvideos an Filme aus der NS-Zeit in Deutschland erinnern. Man muss blind sein, um das nicht zu sehen. Das ist die Realität.
 
Burkot: Besonders bei älteren Menschen, die viel fernsehen oder bei Kindern, die noch sehr beeinflussbar sind, funktioniert diese Form der Propaganda sehr gut. Das ist verrückt. Immer mehr Lehrer sind auch außerstande, wahrheitsgemäß über Geschichte und Politik zu sprechen, weil auch die Kinder sie denunzieren können. Das sind Praktiken der Sowjetunion.
 
Aljochina: Ich denke, es ist offensichtlich, dass der russische Staat Menschen tötet oder in den Tod schickt. Und sie brauchen mehr. Dafür verwenden sie alle Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen: Die Medien, die Kirche und so weiter. Das hat nicht erst 2022 begonnen, nur wird mittlerweile sehr viel mehr Geld investiert. Dass junge Menschen für Putin begeistert wurden, hat vor 20 Jahren begonnen und leider kann ich nicht behaupten, dass sie darin nicht erfolgreich waren. Sie haben aus vielen jungen Menschen Faschisten gemacht.
 
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Pussy Riot: -What was the music like? -goodness me, I don't know how to describe it. Der Abend in einem Bild.  | Foto: Tiberio Sorvillo/Transart
 
Wie steht es um den Widerstand im Land? Geben mehr Menschen den Widerstand auf, fliehen ins Exil oder wächst Widerstand mit zunehmender Unterdrückung?
 
Aljochina: Seit 2022 haben mehr als eine Million Menschen das Land verlassen, weil sie die Ukraine unterstützen und nicht mehr für das, was in Russland passiert stehen wollen. Viele wunderbare Menschen sind im Gefängnis. Es gibt Partisanen, die Gebäude des Militärs anzünden oder die Schienen für den Nachschub-Verkehr an die Front abbauen. Wenn ich auch immer wieder nach dem Protest in Russland gefragt werde, möchte ich doch über den Protest in den besetzten Gebieten der Ukraine sprechen. Dort gibt es keinen, es ist allen klar, dass man wahrscheinlich mit dem Leben bezahlt. Diese Situation haben wir in Russland nicht erst seit zwei Jahren, sondern seit 20. All diese Zeit über haben Menschen in Russland protestiert, auch wenn sie sich im Klaren waren, dass ihr persönlicher Protest nichts am großen Ganzen ändert. Das war ein Schrei nach Gerechtigkeit.
 
Burkot: Zu Beginn des Krieges, als noch nicht klar war, wie sich die Situation entwickeln würde, gab es viele gute Aktionen. Es wurden etwa die Bücher von George Orwell verteilt, weil der Krieg ja kein Krieg, sondern eine Spezialoperation zu sein hatte. Das ist eine offene Frage, die uns immer wieder gestellt wird: Warum gehen die Menschen in Russland nicht auf die Straße? Etwa auch gestern, das war ein sentimentaler Moment. Wir waren in Polen, bei einigen Menschen aus der Ukraine. Im Taxi zum Flughafen war der Fahrer aus Mariupol. Er erzählte von den toten Menschen, die er zu Beginn des Krieges dort gesehen hat und hatte diese Frage. Er ist ein guter Mensch…
 
Wir wurden in vier Tagen fünf Mal verhaftet und geschlagen. Nach acht Jahren hat der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass das falsch war.
 
Wie nehmen Sie die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf, der vor einigen Wochen entschied, dass Russland für die Gewalt bei den Protesten in Sochi, der Staat den Betroffenen 15.000 Euro Schadensersatz zu zahlen habe? Bedeutet diese Summe etwas?
 
Aljochina: Das war damals, 2014, bei den Olympischen Winterspielen, als ich und Nadja durch eine außerordentliche VIP-Amnestie frei kamen, damit Russland sein Gesicht vor dem Westen wahren konnte. Wir beschlossen eine Aktion, „Putin will teach you to love the Motherland“, zu machen. So wurden wir zum ersten Mal geschlagen…
 
Im Gefängnis wurden Sie nicht geschlagen?
 
Aljochina: Nein, im Gefängnis wurden wir nicht geschlagen, was denke ich zwei Gründe hatte: zum einen, weil das vor zehn Jahren war, zum anderen, weil wir Frauen mit internationaler Unterstützung waren. Wir hatten also das größte denkbare Sicherheitsnetz. Wenn man große internationale Aufmerksamkeit hat, dann gibt einem das eine gewisse Sicherheit, weswegen es auch unglaublich wichtig ist, dass wir jetzt über Personen sprechen, die heute in politischer Gefangenschaft sind.
Wie auch immer, wir gingen nach Sochi und haben unsere Aktion umgesetzt. Wir wurden in vier Tagen fünf Mal verhaftet und geschlagen. Nach acht Jahren hat der Europäische Gerichtshof geurteilt, dass das falsch war. Das ist wunderbar, ein Urteil, das für Gerechtigkeit steht, ist immer wunderbar zu hören. Aber es bedeutet nichts… aber als es ein ähnliches Urteil zum „Punk Prayer“ gab, hat das Justiz Ministerium uns das Geld ausbezahlt. Wir haben das Geld aufgeteilt und einen Teil in Mediazona, den anderen in ein Projekt gegen häusliche Gewalt in Russland gesteckt. Das war 2018, das war eine andere Realität.
 
Olga Borisova: Viele Frauen sind in Russland im Gefängnis, obwohl sie sich nur selbst geschützt und aus Notwehr gehandelt haben. Eine Frau geht zum Beispiel zur Polizei, weil sie von ihrem Mann geschlagen wurde und die Polizei sagt, dass sie ihr nicht helfen kann, weil es dafür kein Gesetz gebe.
 
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Pussy Riot: Rund 800 Personen waren zum Konzert des Protestkollektivs nach Kurtatsch gekommen. Prominentester Gast vor der Bühne war wohl der Landeshauptmann. | Foto: Tiberio Sorvillo/Transart
 
Auch in Italien ist das Problem der Hassverbrechen, oft gegen Partner oder Ex-Partner groß. Hätten Sie eine Vorstellung davon, wie ein Justizsystem agieren müsste, um einzugreifen bevor es zu spät ist?
 
Borisova: Man kann sich auch Statistiken ansehen für Länder in denen die Situation besser ist, etwa in skandinavischen Ländern. Ich denke das Rezept ist ein bekanntes: Man muss Polizist:innen im Umgang mit Opfern von häuslicher Gewalt unterrichten.
 
Aljochina: Ich habe das Gefühl, dass es eine starke Verbindung zur Religiosität eines Landes gibt. Religiöse Länder brauchen Feminismus mehr, Frauen wurden dort für Jahrhunderte unterdrückt. Es sollte mehr darüber gesprochen werden, was in der Vergangenheit gegen Frauen verbrochen wurde.
 
Religiöse Länder brauchen Feminismus mehr, Frauen wurden dort für Jahrhunderte unterdrückt.
 
Burkot: Es braucht auch mehr Frauenhäuser. Oft kann eine Frau ihren Mann nicht verlassen, weil sie keine Bleibe oder einen Beruf hat, mit dem sie für sich und ihre Kinder sorgen kann. Solche Strukturen sollten staatlich betrieben werden.
 
Borisova: Auch ist die „Rape Culture“ oder Vergewaltigungskultur, in der Sexualstraftaten oft relativiert oder gerechtfertigt werden, nach wie vor ein großes Problem. Ich denke, das steckt tief in den Menschen drin und hat mit der Erziehung, besonders jener der Söhne zu tun.
 
Aljochina: Ich denke, auch wir Künstlerinnen tragen hier eine große Verantwortung. Wenn wir zusammenkommen und sagen, es ist genug, dann wird das ein Ergebnis haben.
 
Nadežda Tolokonnikova hat ihren Aktivismus in einer Rede damit umschrieben, dass alles, was sie gemacht habe sei, die Menschen darauf hinzuweisen, dass der König keine Kleider trage. Kann öffentliche Bloßstellung auf Putin noch Auswirkung haben oder steht er bereits über solchen Dingen?
 
Aljochina: Putins bester Freund derzeit, ist der Anführer Nordkoreas, er ist also bereits in eine Ecke gedrängt. Dieses Maß an Unterdrückung, welches aktuell zur Anwendung kommt, rührt aus einer Angst vor dem Zusammenbruch. Sie fürchten sich jetzt mehr als je zuvor, weswegen es wichtig ist, die Ukraine zu unterstützen und dieses Regime von allen Seiten zu bekämpfen.
 
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Pussy Riot: Sie darf auf keinem Pussy Riot Konzert oder Protest fehlen: Die Balaclava, welche sich mit einem Schlauchtuch und einer Schere auch selbst basteln ließe. | Foto: Tiberio Sorvillo/Transart
 
Sie haben zuvor auch die Eröffnung einer Ausstellung, einer Retrospektive der Protestaktionen von Pussy Riot in Dänemark erwähnt. Wie waren die Reaktionen auf die Schau im Louisiana Museum of Modern Art? Was passiert mit Protest, wenn er in einem Museum „archiviert“ wird?
 
Aljochina: Für uns ist ein Museum nur eine weitere Plattform um zu zeigen, warum der Kampf gegen dieses Regime wichtig ist. Sie haben das Museum gesehen, oder? Dann haben Sie auch gesehen wie piekfein es ist - es ist super-piekfein. Es war schon bedeutsam, dass wir so einen Ort verwandeln durften. Es trägt seinen Namen, weil der ursprüngliche Besitzer des Hauses drei Ex-Frauen mit dem Namen Louise hatte…
 
Burkot: Das spielt aber keine Rolle. Jeder Ort ist gut, der genutzt werden kann, um zu protestieren, über den Krieg in der Ukraine zu sprechen oder die Wichtigkeit von Aktivismus und ein Bürger des eigenen Landes zu sein, der Verantwortung übernimmt.
 
Aljochina: Für mich war es gar nicht so wichtig unsere Aktionen zu dokumentieren. Es ging mehr darum, wie sich das Regime verändert hat. 2012 wurden wir für „Punk Prayer“ inhaftiert, was international bekannt ist. Das war eine andere Wirklichkeit in Russland. Die meisten Menschen in Europa erinnern sich an die Annexion der Krim, den Abschuss von MH17, dann ist da ein großes Loch und dann hat plötzlich der Krieg begonnen. Für mich war es wichtig zu zeigen, was im Land geschehen ist: Wie Menschen zensiert wurden, wie ständig Menschen ins Gefängnis gesteckt wurden und Stück für Stück Freiheiten untergraben wurden. Diese Dinge habe ich anfänglich gesammelt und in einer kleinen Non-Profit-Galerie in Island ausgestellt. Vertreter von Louisiana sahen sie dort und wollten die Ausstellung nach Dänemark bringen. Ich habe etwa 25 Touren mit großen Besuchergruppen gemacht, um den Menschen das alles zu erklären. Die Ausstellung enthält unsere aktuellen Arbeiten, inklusive der Musikvideos, mit Statements. Nach eineinhalb Jahren sind Menschen müde von diesem Krieg und versuchen das Thema zu wechseln, statt darüber zu sprechen. Diese Ausstellung soll eine Erinnerung daran sein, was passiert, wenn man dem Thema aus dem Weg geht. Russland ist ein System, das es versteht zu warten und seine Scheiße fortzusetzen. Menschen, die dagegen ankämpfen - und ich hoffe, dass Europa zu diesen Menschen gehört - brauchen die selbe Geduld und müssen informiert bleiben. Die russische Propaganda schläft nicht. Russia Today hat offiziell aufgehört in Europa zu senden, aber sie haben andere Mittel und Wege.
 
Burkot: Kunstkritiker stellen manchmal die Behauptung in den Raum, dass Aktivismus und Aktionismus nicht wirklich zeitgenössische Kunst wären, oder es im Krieg keinen Platz für Kunst gäbe. Kunst sollte für sie möglichst zahnlos sein. Was wir machen, ist Redefreiheit und die sollte Teil der zeitgenössischen Kunst sein.
 
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Pussy Riot: Für die Musikerinnen aus Russland geht die Reise weiter. Wohl eher nicht mit dem Gabelstapler. | Foto: Tiberio Sorvillo/Transart
 
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Arne Saknussemm Di., 26.09.2023 - 01:48

Warum gibt es eigentlich fast nie protestierende Musiker*innen, die etwas können, statt diesen unsäglichen Mist zum besten zu geben?!
TransArt denkt wohl, sich durch diesen "Vagina Aufstand" in Richtung "politisches Engagement" profilieren zu können! Armselig!

Di., 26.09.2023 - 01:48 Permalink