Kultur | Salto Weekend

„Mach kaputt, was dich kaputt macht“

Der Flaaser Taberhof fasst morgen, was auf keine Kuhhaut passt: 1000 Seiten Kaser, ein Gesamtwerk zwischen Himmel und Hölle. Gedanken des Dramaturgen, Matthias Vieider.
Installationsansicht Solanum, Taberhof Flaas
Foto: Ludwig Thalheimer
Nicht weniger als 12 Stunden (von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends) soll es dauern, das „purgatorium kaser“ (Regie: Andrea Bernard) von „transart“, an einem Ort, wo Kaser zwei Schuljahre lang an der Grundschule unterrichtet hat, geschrieben wurde hier anteilsmäßig wenig. Trotzdem beteiligen sich - neben den Schauspieler:innen Patrizia Pfeifer, Sebastian Malfer, Freddy Redavid und Giulia Tornarolli - auch Chöre, Theatergruppen und Musikkapellen aus Flaas und Umgebung an der Performance im Taberhof. Wir haben uns vorab gefragt, wie wohl die Aufgabe eines Dramaturgen aussehen kann, wenn von rund 1000 Seiten Gedichten, Prosa und Briefen in deutscher und italienischer Sprache, nichts weg darf und alles inszeniert werden soll. Deshalb haben wir mit Matthias Vieider über seine Aufgabe und Auffassung von Norbert Conrad Kaser gesprochen.
 
Matthias Vieder
Matthias Vieder: „Drei Stunden sind das Mindeste.“ | Foto: Arno Dejaco
 
Herr Vieider, die erste Frage, die sich einem bei einem Projekt mit zwölf Stunden Dauer stellt, ist, wer tut sich das an und wurde „purgatorium kaser“ überhaupt konzipiert, um in seiner Gesamtheit erfasst zu werden?
 
Matthias Vieider: „purgatorium kaser“ geht mehr in Richtung einer Installation, als einer theatralischen Inszenierung. Insofern ist es ein frei begehbarer Komplex aus Räumen, in denen unterschiedliche Dinge stattfinden. Es gibt im Freien die Möglichkeit etwas zu essen oder zu trinken, es gibt Sitzgelegenheiten zum Entspannen. Von den Räumen läuft stringent nur in einem für diese zwölf Stunden etwas durch. In den anderen Räumen wird immer wieder etwas wiederholt.
Die Empfehlung an sehr Kaser-Interessierte oder -Affine Personen ist, dass natürlich zwölf Stunden auch noch zu wenig sind, um komplett in diesen Kaser-Raum, den wir konzipiert haben, einzutauchen. Ich glaube, um ein bisschen einzutauchen in diese Atmosphäre reichen drei Stunden auch, aber das ist schon das Mindeste, das man dort verbringen sollte. Es geht in erster Linie darum, eine spezielle Atmosphäre erfahrbar zu machen - in die kommt man nur hinein, wenn man dort Zeit verbringt und man sich langsam in dieser Parallelwelt gedanklich und gefühlsmäßig einrichtet.
 
Es bleibt offen, was dann explizit durch ihn ins Rollen gekommen ist.
 
Wenn man von Kaser spricht, ließe sich vielleicht ein Begriff anwenden, der auch in Bezug auf den Klimawandel zur Anwendung kommt. Ein „Hyperobjekt“ übersteigt Raum und Zeit und kann in der Gesamtheit nur anhand der Folgen begriffen werden. Ist Kaser in Südtirol ein „Hyperobjekt“?
 
Ja und nein, vielleicht. Wenn es rein um das Textmaterial geht, dann gibt es im Gesamtwerk etwa 1500 einzelne Texte. Da könnte man sagen, das ist mehr oder weniger überschaubar.
 
Unterschätzt man das vielleicht angesichts eines kurzen Lebens?
 
Für ein kurzes Leben ist das sehr viel, ja. Unter diesen 1500 Texten sind natürlich auch Dreizeiler und sehr große Mengen an Gedichten und Briefen dabei. Es sind Kasers Glossen und journalistische Texte dabei, aber er hat in 15 Jahren, vom Alter von 15, 16 bis 31 sehr, sehr viel geschrieben. Das ist mal das Textmaterial. Danach kann es noch um die Auswirkungen seiner Reden und Aktionen innerhalb der Südtiroler Gesellschaft gehen. Da lässt sich schwer abschätzen, wie sich vor allem die Kulturszene entwickelt hätte, wenn es Kaser nicht gegeben hätte und ob trotzdem so eine Aufbruchstimmung entstanden wäre, nur mit anderen Akteuren oder Akteurinnen. Es bleibt offen, was dann explizit durch ihn ins Rollen gekommen ist.
Zum einen verständlich und zum anderen zumindest fragwürdig ist die Mystifizierung, die betrieben wird, insofern wird er vielleicht auch zum Hyperobjekt. Man hat den Eindruck, dass Südtiroler Literatur oft nur aus Kaser besteht oder sich an Kaser messen muss und dass er glorifiziert, fast schon heilig gesprochen wird. Dementsprechend nimmt er sehr, sehr viel Raum ein und andere, gerade aus seiner Generation, werden in seinem Schatten unsichtbar gemacht. Das ist ein Nebeneffekt, den ich sehr fragwürdig finde.
Als ich die erste Anfrage bekam, war ich deshalb sehr skeptisch. Der erste Impuls war: Nicht schon wieder Kaser… Ich war eher bei der Aussage Maxi Obexers, die sie in einem Salto Gespräch mit Sabine Gruber getroffen hat. Im Sinne von: Wer war schon Kaser, der hat ein paar Gedichte geschrieben und sich dann zu Tode gesoffen…
 
Ich finde den Hype auf N.C. Kaser, der ein paar Gedichte verfasst hat und sich dann im Suff ertränkt hat, reichlich überzogen und frage mich ernsthaft, womit das zu tun hat. Literarisch hat er für mich keine Rolle gespielt, und ich frage mich, für wen er das hat. (Maxi Obexer)
 
Wenn man eine feministische Neudeutung der Südtiroler Literatur machen will, dann stößt man auch darauf, dass diese sehr männerlastig ist. Wenn man aus feministischer Perspektive auf die Nachkriegsliteratur in Südtirol blickt, dann lässt sich das schon in Frage stellen, dass mit Kaser wieder ein Mann die Aufmerksamkeit für sich einnimmt und Autorinnen wie zum Beispiel Anita Pichler weniger Platz finden. Jetzt, nachdem ich mich intensivst mit seinem Werk auseinander gesetzt habe, würde ich aber sagen: Sein literarischer Wert ist schon extrem stark.
 
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n.c. kaser, Pascoli Lyzeum: Bei einer Aktion im Sommer 2022 erinnerten Schüler:innen des Pascoli Lyzeums an Kaser, mit Zitaten des Autors, welche sie sich symbolisch selbst zuschrieben. | Foto: Salto.bz
 
Weil sich die Frage nun stellt: Welches Frauenbild ist Ihnen bei Kaser begegnet?
 
Es ist extrem widersprüchlich. Zum einen eine große Sehnsucht, eine starke Zuneigung und Zärtlichkeit, zum anderen Gewaltfantasien in einer sehr gewaltvollen Sprache. Die Frage nach dem Ich und dem Lyrischen Ich stellt sich da, gerade bei den Texten, in denen es um Prostituierte geht. Da kann man natürlich auch denken, dass er da etwas reproduziert, das gerade gesellschaftlich im Raum stand. Mein Eindruck war, dass er bewusst Gewaltfantasien in seinen Gedichten ausgelebt hat. Feminist war er wahrscheinlich keiner, wobei es einen Text gibt - ich kann mich an den Titel leider nicht mehr erinnern - in dem er sehr progressiv über seine Mutter schreibt, die in ihrer Rolle als Hausfrau gefangen ist und in einem Zwangskäfig steckt. Das hat mich wieder sehr erstaunt.
 
Meine Erfahrung ist, dass wenn man mit Menschen spricht, die meisten Kaser „kennen“.
 
Wie gut kennen die Südtiroler:innen Kaser?
 
Meine Erfahrung ist, dass wenn man mit Menschen spricht, die meisten Kaser „kennen“. Diese oberflächliche Kennerschaft von Kaser beschränkt sich oft auf: „Kaser hat Gedichte geschrieben, war irgendwie experimentell, hat Skandale ausgelöst und hat kompromisslos gesellschaftliche Strukturen kritisiert, vor allem die Kulturpolitik, Athesia und das Provinzielle, Traditionalistische, Konservative und Reaktionäre…“ bei mir war das auch so, das war Kaser für mich.
 
…und sein Alkoholproblem?
 
Genau: „…und er war Alkoholiker und ist daran gestorben, durch eine Leberzirrhose.“ Was mich überrascht hat ist, womit er sonst noch alles aufwartet und wie viel Hinterraum bei seinen gesellschaftskritischen Texten noch entsteht, wenn man von den Glossen mal absieht, die mehr einen journalistischen Zweck hatten. Vor allem ist da aber etwas zutiefst Persönliches, da sind verschiedene Versionen und Widersprüche mit ihm selbst, anderen Leuten, Institutionen und der Gesellschaft. Er hatte eine sehr fragile Verletzlichkeit, wobei er gleichzeitig einen sehr lauten, anklagenden Schrei ausstieß. Das Changieren zwischen Widersprüchen findet sich in allen Bereichen: Ich muss weg aus Südtirol - Ich muss zurück nach Südtirol; Ich muss nach Wien - Ich hasse Wien; Ich muss Anerkennung finden in der Literaturszene - Ich hasse die Literaturszene; Ich will Geld von Leuten - Ich bin extrem gemein zu ihnen, sodass sie mich noch weniger unterstützen; die Beziehung zu seinen Eltern, zu seiner Schwester, Liebesbeziehungen und der ständige Kampf mit sich selbst. Diese Zerrissenheit hat für mich, nachdem ich mich länger mit Kasers Texten beschäftigt habe, etwas extrem Existentielles. Das hat eine solche Tragik in sich, bei einer Verzweiflung und Ohnmacht, gegen die er ankämpft. All diese Aspekte, diese Vielschichtigkeit sind natürlich viel mehr als nur - Kaser hat die Brixner Rede geschrieben und gesagt, wir sollten den Tiroler Adler wie einen „Gigger“ braten oder Alto Adige sei Alto Fragile.
Ganz zu vergessen von der Religion: Ernsthafte Gespräche mit Gott, dann wieder Hasstiraden über alles, was mit Gott zu tun hat. Die Zuneigung zum Märtyrer Sebastian, der Eintritt ins Kloster und der Austritt aus der Kirche, das Engagement in der kommunistischen Partei und dann wieder sehr gemeine Texte über Protagonisten der linken Partei.
 
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Purgatorium Kaser: Ist die Zerrissenheit als vereinender Faktor unter den Texten etwas, das sein Gesamtwerk zusammenhält? | Grafik: transart, Foto: Hannelore Haller
 
Wie ist es mit Ihrer Rolle? Als Dramaturg übernehmen Sie eine gewisse Aufbereitung und Setzung der Texte. Das stellt man sich schwierig vor, insbesondere wenn die Aufgabenstellung lautet, das Gesamtwerk abzubilden. Bei einem umfangreichen Werk ist, salopp formuliert, auch Blödsinn dabei. Wie positioniert man den Blödsinn Kasers ohne dass man ihn in eine Ecke stellt und sagt, „Das sind die misslungenen Versuche Kasers“, wo eine Streichung dann genauso sinnvoll oder sinnvoller gewesen wäre?
 
Ich habe natürlich meine Lieblingstexte und jene, die ich weniger gut gelungen finde und diese subjektive Auswahl ist in meine Arbeit auch eingeflossen. Wobei ich sagen muss, dass die Texte, die er selbst zu Gedichtbänden geschnürt und an Freunde verschickt hat – die er also gewissermaßen auch abgesegnet hat – und die Texte die im Gesamtwerk gelandet sind, nachdem man sie auf Fresszetteln gefunden hat, sich meiner Meinung nach qualitativ nur wenig unterscheiden. Was mein Arrangement der Textmasse betrifft, war meine Arbeit schon sehr vorgeprägt, weil Andrea (Bernard), als ich eingestiegen bin, eigentlich schon für sich thematische Schwerpunkte ausgesucht hatte. Insofern haben wir gemeinsam diese Schwerpunkte noch weiter ausgearbeitet. Es gibt dann einen Raum, wo es mehr um die Selbstsezierung und die Beziehung Kasers zu sich selbst geht; einen Raum zu den Beziehungen zu anderen, Institutionen oder etwa Tieren; ein Raum über die Entdeckung und Konstruktion von Welt durch sehr genaues, analytisches Beobachten und Beschreiben, gleichzeitig aber auch das Erfinden von Geschichten für Schulkinder; oder aber auch einen Raum mit seinen aggressiveren Texten. Wir haben thematische Gruppen geschaffen und in dem einen großen Raum gibt es alle Texte: alle 1500 Texte liegen ausgedruckt auf dem Boden und dort gibt es dann eine Entwicklung, insofern als die Schauspieler:innen die Texte vorlesen und beiseite legen, sodass sich der Raum langsam leert.
 
Interessant ist auch, wie Sie zu dem Projekt gestoßen sind. Sie haben von einem anfänglichen Halbwissen gesprochen und haben aber in einem kurzen Zeitraum ihre Wissenslücken geschlossen. Was kann eine Überdosis Kaser für Nebenwirkungen haben?
 
(lacht) Es ist zum einen auf jeden Fall rauschhaft. Zum anderen habe ich auch im Erlebnis einen Widerspruch gesehen: Es war sehr niederschmetternd, auch traurig, hatte aber gleichzeitig eine große Kraft und Selbstermächtigung. Man zertrümmert sich selbst im selben Moment total und ermächtigt sich selbst. In diesen Zwiespalt kam ich: Ich habe eine extrem große Last gespürt, die durch die Texte auf mich eingewirkt hat, spürte im selben Moment aber einen ganz starken Befreiungsdrang.
 
Weg mit dem Alten, her mit dem Neuen?
 
Hm, vielleicht eher so eine Mischung zwischen „Mach kaputt, was dich kaputt macht“ und „Mach dich selbst kaputt“.
 

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Peter Paul Ped… So., 24.09.2023 - 16:29

wenn er damals, weniger von den damaligen gepantschten kaltersee getrunken hätte, (ich war im cafe garden, ja des öffteren mit ihm zusammen) hätte er wahrscheinlich länger leben können. ich habe öfters gesagt, trink doch was besseres. leider konnte er sich nichts besseres leisten. war aber gegen marihuana rauchen.

So., 24.09.2023 - 16:29 Permalink