Politik | Elezioni/Wahlen 23

„Was soll ich da verstehen?“

Chafai Fatnassi, Vertreter der Grünen, stammt aus Algerien, lebt in Brixen. Derzeit arbeitet er als Magazineur, wäre aber auch bereit im Südtiroler Landtag zu arbeiten. Ihm ist Sicherheit im Land, genau wie sein Gemüsegarten, ein Anliegen.
Chafai Fatnassi in der Tür zur Salto Redaktion, 2023
Foto: SALTO
  • SALTO: Herr Fatnassi, der Öffentliche Personennahverkehr ist in Südtirol ein großes gesellschaftliches und politisches Thema. Wäre er auch für Sie, angesichts Ihrer Berufserfahrung eine Priorität?

     

    Chafai Fatnassi: Bevor ich Magazineur wurde, war ich ein Busfahrer. Ich habe dreieinhalb Jahre bei der SASA und fünf Jahre bei der SAD gearbeitet. Ich habe die ganzen Skandale der SAD miterlebt und kenne die Situation im Nahverkehr gut. Es ist ein wichtiges Thema, nur hat das Land und die bislang herrschenden Politiker alles kaputt gemacht. Die SAD war eine tolle Firma, bei der mehr oder weniger alles gepasst hat und auch die Chauffeure waren wirkliche Vollwertchauffeure, die bis zum letzten Tag von Herzen die Leistung gebracht haben. Nach letzten Nachrichten haben 110 Busfahrer in 20 Monaten gekündigt und ich denke, dass das schon einen Grund hat. Es gibt die Ressourcen und es wird vom Land auch viel Geld in Busse investiert, aber nach meiner Meinung funktioniert es derzeit nicht. Es braucht Erfahrung und eine richtige Führung. Das kann ich sagen.

     

    Nach letzten Nachrichten haben 110 Busfahrer in 20 Monaten gekündigt und ich denke, dass das schon einen Grund hat.

     

    Sie leben seit über 20 Jahren in Südtirol. Was braucht es - von beiden Seiten - also sei es von neuen Mitbürger:innen oder Einwander:innen in der zweiten Generation, als auch vom Rest der Gesellschaft, damit Integration in Südtirol gelingt?

     

    Das ist eine tolle und richtige Frage, weil Sie auch fragen, was es von der Gegenseite braucht. Man hört oft: Die Ausländer müssen sich integrieren. Meiner Meinung nach startet Integration von beiden Seiten, nicht nur von der Seite der Ausländer. Man spricht sehr, sehr viel von den Negativbeispielen zu Ausländern. Wenn auf die über 50.000 Einwohnern aus dem Ausland in Südtirol blickt, dann sind die, welche für Chaos sorgen und sich schlecht verhalten nicht einmal fünf Prozent. Von den guten Beispielen hört man wenig in den Medien. Wenn man nur zwei Jahre zurück blickt, auf den Beginn des Kriegs in der Ukraine, dann haben sich die Politiker bemüht gezeigt und auch die Bevölkerung hat ihre Türen geöffnet. Wenn aber einige Flüchtlinge kommen, dann kann ich mich erinnern, was etwa im Gadertal passiert ist, wo man in einem Dorf nicht zehn Menschen aufnehmen wollte. 10 Menschen! Wir sprechen von zehn Menschen… Da passiert gar nichts. Da sieht man wirklich den Unterschied.

    Von den guten Beispielen hört man wenig in den Medien.

    Es muss auch die Bevölkerung sensibilisiert werden. Das Problem in Südtirol ist, dass in vielen Bereichen Arbeiter und Fachkräfte fehlen. Wenn wir Flüchtlingen eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung geben und die Chance bieten ihr Stückchen Brot zu verdienen, dann hören wir nichts. Sie müssen etwas tun und sind jung und wir brauchen die Leute. Vor zwei Tagen (das Interview wurde am vergangenen Freitag geführt, Anm. d. Red.) habe ich in Bruneck mit einem Vertreter der SVP diskutiert, der ein Programm für die nächsten zehn Jahre vorgestellt hat, dass 30.000 Arbeiter brauchen würde.

     

    Dann müsste man dafür sorgen, dass neue Mitbürger Gelegenheit zur Ausbildung oder Umschulung erhalten?

     

    Das ist eine gute Idee. Bildung ist die Hauptsache und sie sind jung. Es braucht zwei, drei Jahre, damit sie die Sprache richtig lernen und sie müssen wissen, was sie in Zukunft machen sollen. Das wäre die Aufgabe der Politiker. Diese werden gut bezahlt, aber da gibt es keine Ideen oder Visionen. Warum wurde den Menschen aus der Ukraine geholfen? Weil sie durch Medien und Politik unterstützt wurden. Man ist bemüht. Wenn man wollen würde, dann gäbe es sicher Ergebnisse.

     

    Es ist in den Medien derzeit sehr viel von Jugendgewalt die Rede, im ersten oder zweiten Satz wird dann gern betont diese seien „ausländischer“ oder „vermutlich ausländischer“ Abstammung. Was wäre Ihre Idee um Gewalt im Land vorzubeugen?

     

    Das ist derzeit ein heißes Thema und es stimmt schon, dass Medien derzeit viel über diese Sache berichten. Ich kann nur bestätigen: Ich habe nach elf Jahren auf der Warteliste eine Wohnung des Instituts für sozialen Wohnbau bezogen. Man hat mich genau dort hin geschickt, wo das Chaos ist, ins „Ghetto“ Milland. Dort ist es sehr konfliktreich und wir haben gerade eine heiße Saison. Aber wenn ich zurück an meine Jugend denke, dann ist das für mich kein Problem. Ich bin in dieser Realität geboren und aufgewachsen. Wenn Politiker keine Idee haben und es wie in Frankreich Anfang der 70er und 80er machen, als viele Ausländer in den Banlieues  zusammengeschmissen wurden, dann hat man in den 90ern gesehen zu welchen Problemen das führt. Jetzt wird das verstanden. Diesen Sommer war ich in Frankreich, wo ich zwei Brüder und eine Schwester habe. Die großen Gebäude, die man nur für Ausländer errichtet hat, werden dort nach und nach abgerissen und die Einwohner umverteilt.

    Wenn Politiker keine Idee haben und es wie in Frankreich Anfang der 70er und 80er machen, als viele Ausländer in den Banlieues  zusammengeschmissen wurden, dann hat man in den 90ern gesehen zu welchen Problemen das führt. 

    Kommen wir zurück zu den Jugendlichen, viele sind aus Familien in denen der Vater wenig Zeit hat, viele von ihnen verlassen die Schule auch vorzeitig und bilden kleine Gruppen. Oft kopieren sie dann nur, was sie auf sozialen Medien wie TikTok sehen und was wir uns gar nicht vorstellen können. Es gilt, Projekte zu starten, welche den Jugendlichen einen Platz geben. Ich habe das selbst versucht, da wo ich wohne. Niemand grüßt niemanden und niemand spricht mit niemandem. Ich habe mir gesagt, das geht nicht. Ich muss etwas tun. Das Wohnbauinstitut wollte mir anfänglich nicht den Platz zur Verfügung stellen, um einen gemeinsamen Gemüsegarten zu gründen. Anfänglich waren wir zu fünft, jetzt sind wir 13 Personen. Ich musste kämpfen, bis mir das genehmigt wurde, weil man Bedenken äußerte, dass da Tomaten gestohlen würden. Das ist mir egal. Wenn eine Tomate oder eine Gurke fehlt, dann interessiert mich das nicht oder, ist im Gegenteil, sogar eine Gelegenheit, bei der ich mit den Jungen reden kann. Das Projekt ist kurz vor Corona gestartet und ich habe auch für einen Tisch, Bänke und einen Sandplatz für die Kinder gesorgt. Jeder von uns hatte eine Parzelle von vier Quadratmetern. Wenn jetzt jemand etwas brauchte, dann sind oft auch Junge zu mir gekommen und haben mir gestanden, dass sie mir im letzten Jahr einige gelbe Kirschtomaten gestohlen hätten. Das ist egal.

    Aber als ich dann mal Hilfe gebraucht habe, haben sie mir gern geholfen. Wir müssen auch die Gewalt der Jugendlichen oder wenn einmal eine Tür kaputt gemacht wird oder auf die Wände geschrieben wird, dann müssen wir das als Signal verstehen. Wenn wir den Jungen nicht zuhören, warum sie das machen oder was sie meinen, dann verstehen wir das viel zu oft nicht.

     

    Welche Prioritäten haben Sie sonst noch, gesetzt den Fall, dass Sie gewählt werden?

     

    Wir müssen ernsthaft über die Sicherheit in Südtirol reden, es muss ja nicht ein Ausländer gefährlich sein. Gefährlich können auch etwa Deutsche oder Italiener sein. Wir sollten uns nicht nur auf die Ausländer fokussieren, wie auf den Plakaten der Süd-Tiroler Freiheit. Das ist ein ganz schlechtes Signal, nur um ein paar Stimmen zu haben. Ich hatte schon viele Konfrontationen mit Vertretern der Partei und die Antwort war dann: „Nein, wir reden jetzt nicht über dich. Es gibt ja auch Ausländer, die hier herkommen, die Regeln respektieren, arbeiten und Steuern zahlen…“ Wenn man aber groß „kriminelle Ausländer“ schreibt - mit einem Messer! - und ich ein Ausländer bin, was soll ich da verstehen?