Politik | Israelkonflikt

Die ewige Wiedergutmachung

Israeli und Palästinenser bekriegen sich wieder, seit 1948 ist alles beim Alten. Anlässlich der neuen Auseinandersetzung aber bewegt sich etwas, zumindest in den Köpfen.

Gestern war ein blutiger Sonntag in Gaza. Die kürzlich gestartete massive Bodenoffensive Israels hat an einem einzigen Tag rund hundert Opfer gefordert. Allein im Gaza-Vorort Schedschaia seien 62 Menschen ums Leben gekommen, darunter 17 Kinder. Zwischenbilanz: Über 400 Tote auf palästinensischer und an die 20 Tote auf israelischer Seite.

Als Reaktion auf diese ungleichen Zahlen haben sich weltweit Proteste eingestellt. Im Web kursieren Bilder, die die menschlichen Tragödien hinter diesen Zahlen zeigen und die Welt fragt sich: Muss es so sein? Ist der Konflikt unlösbar? Wer ist schuld, wer sollte also den ersten Schritt tun? Während einige versuchen, diesen Fragen auf den Grund zu gehen, versucht man anderswo, die Meinungen in eine gewisse Richtung zu lenken. Frankreich etwa machte letzte Woche Schlagzeilen, als für das Wochenende sämtliche Demonstrationen verboten wurden. Nach den Ausschreitungen vom vorigen Wochenende wollte man mit dieser nicht besonders demokratiefreundlichen Maßnahme die "allgemeine Ordnung" wahren. Nichtsdestotrotz gingen in Paris Tausende auf die Strasse, wobei es auch zu Gefechten mit den Ordnungshütern kam. Propalästinensische Proteste und Kundgebungen fanden auch in Wien, Berlin und Washington statt, wo orthodoxe Juden vor dem Weißen Haus Freiheit für Palästina forderten. Gleichzeitig gab es auch zahlreiche proisraelische Veranstaltungen.

Die internationale Kontroverse der Meinungen zeigt: Die Welt hat noch immer ein gestörtes Verhältnis zu Israel. Die Tatsache, dass es diesmal so massiv zu propalästinensischen Demonstrationen kam, ist aber schon ein gutes Anzeichen, dass endlich ein wohltuender Pluralismus in den Israel-Diskurs einfließt. Bislang war jedes Gespräch über Israel unterschleiert von einer subtilen Angst: der Angst, etwas Falsches zu sagen und daraufhin einer Einstellung bezichtigt zu werden, die eines der grässlichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte hervorgebracht hat: des Antisemitismus. "Das Verdikt Antisemitismus ist geläufig", schreibt der deutsche Literaturnobelpreisträger Günther Grass in seinem Gedicht "Was gesagt werden muss". Darin thematisierte er im Jahr 2012 gerade diese Schwierigkeit, offen über den Staat Israel zu sprechen. Schließlich habe die Kritik gegen einen Staat nichts mit der Einstellung zum Judentum an sich zu tun. Darüber hinaus äußerte Grass seine Befürchtung, die Atommacht Israel könne mit der aktuellen politischen Linie eine Bedrohung für den Weltfrieden darstellen. Israels Politiker reagierten prompt und verhängten über Grass ein Einreiseverbot. Wie vorhergesehen, ließ auch der Vorwurf des Antisemitismus nicht lange auf sich warten.

Die jetzige Situation ist das Produkt eines jahrzehntelangen Fehlverhaltens der internationalen Politik. Seit 1945 hatte der Westen einen intrinsischen Zwang, mit dem Volk der Juden etwas Unaussprechbares wiedergutzumachen. Dabei wird schon das Wort "Wiedergutmachung" begleitet von einem falschen Beigeschmack, weil die Unmenschlichkeiten der Shoa ohnehin alles übertreffen, was man irgendwie "wiedergutmachen" könnte. Diese Unmöglichkeit einer Wiedergutmachung wollte man aber nicht anerkennen, stattdessen gründete man einen neuen Staat, vertrieb 700.000 Einheimische aus der Region, und liefert jährlich Milliarden US-Dollar an militärischer Hilfe an Israel (drei Milliarden allein aus den USA), um dieses neue Unrecht aufrechtzuerhalten. Geschickt instrumentalisieren Israels Politiker den Vorwurf des Antisemitismus, um jegliche Kritik zu diskreditieren. Diese Instrumentalisierung ist auf zweierlei Weise pervers: Einerseits, weil die rein politisch motivierte Kritik am Vorgehen eines Staates nichts mit Antisemitismus gemein haben muss. Das sind zwei verschiedene Dinge. Andrerseits, weil dadurch die westliche und vor allem deutsche Schuld des Holocausts als Alibi hergenommen wird, um neue Verbrechen zu decken und gegen Kritik immun zu machen. So werden die jüdischen Opfer von damals erneut zu fremden Zwecken missbraucht und dadurch auf einer weiteren Ebene zu Opfern gemacht. Darf das die Strategie eines Staates sein, der die Unterstützung eines demokratischen Westens haben will, der die Charta der Menschenrechte hochhält?

Die jüngsten Gefechte in der Region fallen großteils auf die Rechnung der Hamas, die als Erstes das Feuer eröffnet hat. Eine bedingungslose Verurteilung der terroristischen Hamas-Organisation gehört zu einem zielführenden Friedensprozess genau so wie ein neues, objektives Verhältnis zum Staat Israel, der unabhängig von deutschen Verbrechen betrachtet werden muss. Diese Objektivität hält im allgemeinen Diskurs unter der Bevölkerung langsam Einzug. Nun muss man erst sehen, wie lange sie braucht, um auch bei Europas und Amerikas Regierungen anzukommen. Die Pflicht der Wiedergutmachung eines früheren Unrechts darf nicht beinhalten, dass die Opfer von gestern die Täter von heute sein dürfen.

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Martin B. Mo., 21.07.2014 - 18:50

Arme Palistinenser-Kinder: widerlich benutzt von Hamas und terrorisiert oder getötet von den Angriffen des isralischen Militärs, eindeutig toleriert durch Staatsführung und öffentliche Meinung.
Jeder Funke Menschlichkeit in diesem Konflikt wirkt wie ein Wunder.

Mo., 21.07.2014 - 18:50 Permalink
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Matthias Wagner Mo., 21.07.2014 - 22:52

Den wohltuenden Pluralismus kann aber nur erkennen, wem hier die Kufiya (oder der Arm dieses Herren http://i2.wp.com/www.publikative.org/wp-content/uploads/2014/07/1049537…) die Sicht versperrt. Wieviel antisemitische Hetze sich unter Tatenlosgkeit der Poilitik im Moment in Europa entfalten darf, ist besorgniserregend: in Frankreich werden Synagogen attackiert, in Berlin propagiert der Mob vor einer Synagoge “Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein” und bedroht ein israelisches Ehepaar mit "Nazimörder Israel!", "Scheiß Juden, wir kriegen Euch!" und "Wir bringen euch um!"

Mo., 21.07.2014 - 22:52 Permalink
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Teseo La Marca Di., 22.07.2014 - 14:44

Antwort auf von Matthias Wagner

Antisemitische Hetze ist selbstverständlich bedenklich, vor allem, wenn man die Geschichte vor Augen hat. Dagegen muss auch entschieden vorgegangen werden. Eine ganz andere Sache ist Antizionismus: Denn der Zionismus ist fast genauso bedenklich wie Antisemitismus, beide leben von einem Gedankengut, wonach ein Menschenleben wegen seiner Religion, seiner Rasse, oder seiner Abstammung mehr wert ist als ein andres. Genau dieses Gedankengut lag der Gründung des Staates Israel zugrunde, als man 700.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben hat.
Wir selber haben als Südtiroler so eine Vertreibung miterlebt, auch wenn viel abgeschwächter in Form der Option. Und dennoch hat es auch bei uns terroristische Akte gegen die "Besatzungsmacht" gegeben. Terroristische Akte, die dann mit den Attributen eines Freiheitskampfs geschmückt wurden. Zionismus ist eine faschistische Attitüde, die nichts als Unrecht schafft. An der Grenze zu Gaza sitzen Israeli, mit Popcorn und Getränken und bejubeln jeden neuen Raketeneinschlag auf Gaza (siehe zb: http://www.theguardian.com/world/2014/jul/20/israelis-cheer-gaza-bombing ). Nationalismus in Reinform. Wer das unterstützt, ist selbst in der rechten Ecke zu verorten.

Di., 22.07.2014 - 14:44 Permalink