Società | Salto gespräch

„Alles, was Hass ist, ist gefährlich“

Die ungarisch-jüdische Philosophin Ágnes Heller (1929-2019) über Orbán, Salvini, den Antisemitismus, die Jugend von heute und warum sie sich nicht als Feministin sieht.
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Foto: dagospia
Zum Tod von Ágnes Heller (12. Mai 1929 – 19. Juli 2019): das Interview, das anlässlich ihres Besuches in Südtirol im Oktober 2018 geführt wurde, zum Nachlesen.
 
 
Die Philosophin Ágnes Heller, Jahrgang 1929, erlebte und überlebte die Shoah und den Stalinismus, und lehrt seit Jahrzehnten an international angesehenen Einrichtungen, z.B. als Nachfolgerin von Hannah Arendt an der New School in New York City. Vergangene Woche weilte sie in Meran und war auf Veranstaltungen in der Akademie deutsch-italienischer Studien in Meran, sowie auf der Zenoburg in Dorf Tirol zu Gast, wo sie über Themen wie Demokratie, Rechtspopulismus und die Zukunft Europas sprach. 
 
salto.bz: Frau Heller, wie kommt es, dass Sie so gut Deutsch sprechen?
 
Ágnes Heller: Mein Vater ist in Wien geboren und ich hatte dann noch Verwandte in Österreich, bei denen ich als Kind jedes Jahr die Sommerferien verbracht habe. Ich kann mich noch gut an die Orte erinnern wo wir damals waren, Wienerbruck zum Beispiel, oder Prein an der Rax. Aber 1938 kam es zum Anschluss Österreichs, und danach konnte ich nicht mehr dorthin, auch meine Verwandten lebten danach nicht mehr dort. So habe ich nach 1938 angefangen, die deutsche Sprache zu vergessen.
 
Aber sie sprechen sie immer noch fließend.
 
Nicht so wie als Kind, da sprach ich es ganz natürlich, wie eine Muttersprache. Das ist verloren gegangen. Das nächste Mal, dass ich deutsch las und sprach, war an der Universität als ich achtzehn Jahre alt war, in einem Seminar über Kants Kritik der Urteilskraft. Das war ein anderes Deutsch, kein Kinderdeutsch. Aber ich kann auf deutsch noch gut über Zwerge und Riesen sprechen, oder Lieder singen wie „Ich hatt' einen Kameraden, einen bessern findst du nicht“,* „Gloria, Viktoria, widewidewitt, bum, bum“ und so weiter und so weiter.**
 
Sie haben einmal gesagt, sie hätten Physik und Chemie zu studieren begonnen um zu zeigen, dass Frauen in der Wissenschaft Männern in nichts nachstehen. Später haben Sie sich für eine Frauenquote im ungarischen Parlament eingesetzt. Sind Sie Feministin?
 
Alle diese Dinge sind wahr. Als ich dreizehn war, habe ich ein Buch über Madame Curie gelesen, sie wurde mein Vorbild und ich wollte Wissenschaftlerin werden so wie sie. Später, Ende der Neunzigerjahre, habe ich mich zusammen mit anderen Frauen um eine Frauenquote im Parlament bemüht, aber wir haben nicht die notwendigen Unterschriften dafür sammeln können. Die Leute waren daran nicht interessiert. Bin ich also Feministin? Ich bin für die Befreiung und die Gleichheit der Frau auf ganzer Linie, nicht nur die politische. Aber ich bin keine Feministin. Ich bin sehr skeptisch allem -ismen gegenüber. Egal, was für ein -ismus es ist, es gibt da immer gewisse Fragen und Antworten, die alle annehmen müssen, und so nehmen -ismen den einzelnen Menschen die Freiheit weg, mit ihrem eigenen Kopf zu denken. Darum bin ich überhaupt keine -istin.
Ich bin für die Befreiung und die Gleichheit der Frau auf ganzer Linie, nicht nur die politische. Aber ich bin keine Feministin.
Sie sind auch keine Sozialistin mehr?
 
Sozialismus ist keine Weltanschauung, es ist eine Bewegung. Ich glaube nicht, dass ich mich heute noch als Sozialistin bezeichnen würde. Ich denke, dass der Sozialismus eine wichtige Tendenz innerhalb der Moderne war, und ich habe großes Verständnis für den Sozialismus, wie auch für den Liberalismus. Aber ich will mich nicht mehr mit einer dieser Richtungen identifizieren. Ich will in allen Situationen beurteilen, welche Bewegungen, Programme und Tendenzen ich als am günstigsten ansehe. 
 
 
 
Mit der Lega in der Regierung und Matteo Salvini als Außenminister gibt es in Italien jetzt wichtige politische Figuren, die Orbáns Politik ausdrücklich loben. Was möchten Sie als Ungarin und Orbán-Gegnerin uns in Italien dazu sagen?
 
Viktor Orbán hat vor kurzer Zeit gesagt, dass Salvini sein Held sei. Und man kann Menschen immer danach beurteilen, wen sie zu ihren Helden machen. Für Orbán ist das ein schlechtes Zeugnis. Natürlich hat er sowieso ein schlechtes Zeugnis, aber dass er das so gesagt hat, ist fürchterlich. Meine Botschaft an Italien ist deshalb, dass man sich gegen Orbánismus wehren muss. Italien ist noch kein Ungarn, das heißt, Salvini hat noch nicht dieselbe Macht wie Orbán. Denn Orbán ist ein richtiger Tyrann: Alles, was Orbán will, passiert in Ungarn, und was er nicht will, kann gar nicht passieren, das ist die Definition von Tyrannei. Salvini ist noch nicht dazu in der Lage. Aber die Italiener sollte die Warnzeichen wahrnehmen und die Tyrannei nicht als Staatsform wählen, nicht zulassen, dass Leute wie Salvini nicht die Möglichkeit bekommen, so zu handeln wie Orbán.
 
Leben Sie als ausgesprochene Orban-Kritikerin in Ungarn gefährlich?
 
Schauen Sie, Orbán ist für Ungarn gefährlich, eine Lebensgefahr für die Zukunft des Landes. Ich fühle mich nicht gefährdet, ich bin neunzig Jahre alt, was kann man mir antun?
 
Meran gehört zu den Städten in denen Stolpersteine vor die ehemaligen Wohnhäuser von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern verlegt wurden, um an ihre Deportation zu erinnern. Die Meinungen über dieses Projekt gehen allerdings auseinander. Was halten Sie davon?
 
Ich habe einen Stolperstein für meinen Vater gelegt, vor dem Haus in Budapest wo wir wohnten, als er von der Gestapo verhaftet wurde. Das ist schon eine Antwort. Es gibt viele Möglichkeiten, an Deportierte und Ermordete zu erinnern. Ich denke, man kann gut an Menschen erinnern, indem man zeigt, wo sie gewohnt haben, und wann und wie. Deshalb denke ich, dass es eine gute Idee ist, die Stolpersteine zu legen.
 
Die Italiener sollte die Warnzeichen wahrnehmen und die Tyrannei nicht als Staatsform wählen, nicht zulassen, dass Leute wie Salvini nicht die Möglichkeit bekommen, so zu handeln wie Orbán. 
 
Es ist gerade die Rede von einer Rückkehr des Antisemitismus in Europa, allerdings nicht nur von dem rechten, sondern auch einem Antisemitismus von links. Manche werfen zum Beispiel Labour-Parteichef Jeremy Corbyn vor, Antisemit zu sein…
 
Er ist es auch, es wird ihm nicht nur vorgeworfen.
 
 
Und auch ein islamischer Antisemitismus kommt dabei zur Sprache. Wie beurteilen Sie das?
 
Ich glaube, alle diese Antisemitismen sind momentan präsent. Judenhass ist älter, den gab es schon vor dem Antisemitismus. Schon zur Römerzeit, vor dem Christentum, gab es eine Judeophobie. Dann kam der christliche Antijudaismus, weil Juden angeblich Gott getötet hatten. Später folgte der Antisemitismus, der war gesellschaftlich, es hieß, Juden regierten die Welt. Und jetzt haben wir einen neuen, den ich Antiisraelismus nennen würde. Sie hassen uns nicht, weil wir Semiten sind, sondern weil wir mit dem Staat Israel verbunden sind. Diesen Punkt haben linker und islamischer Judenhass gemeinsam, hingegen ist der rechte Antisemitismus noch ein traditioneller. Aber alle Formen sind gefährlich. Alles was Hass ist, ist gefährlich. Was die Motivation oder Ideologie dahinter ist, ist nicht ganz, aber beinahe gleichgültig.
 
Teilen Sie die Auffassung, dass junge Menschen heute unpolitisch sind, vor allem weil sie Krieg, Totalitarismus oder Krisen nicht selbst erlebt haben?
 
Ich kann auf diese Frage nicht antworten, ich kenne nicht „die jungen Menschen“ im Allgemeinen. Meine Enkel sind nicht apolitisch, und ich kenne sehr viele junge Leute, z.B. Gymnasiasten in Ungarn, die nicht apolitisch sind. Es gibt natürlich auch solche, die apolitisch sind. Auch gibt es da einen Unterschied zwischen Ost-und Westeuropa. Jüngere Generationen hatten in Osteuropa mehr mit Politik zu tun, weil sie unter einem totalitären Regime ein Bedürfnis nach Freiheit hatten. Aber vergessen wir nicht, dass politisch zu sein nicht automatisch etwas Gutes ist. Zurzeit sehen wir in Ostdeutschland politische Bewegungen, darunter auch neonazistische. Wir müssen deshalb auch fragen, um welche politische Aktivität es sich handelt. Und wenn wir über Westeuropa sprechen, muss man auch sagen: Nicht nur diese jungen Leute, auch ihre Väter und Mütter haben noch nie einen Krieg gesehen. Sie ähneln der Generation von 1914, vor dem ersten Weltkrieg war hundert Jahre Frieden gewesen, und die Menschen konnten sich keine echte Kriegserfahrung vorstellen. Das ist auch eine Warnung, weil es zeigt, dass ein Krieg auch ausbrechen kann, wenn man es sich nicht vorstellen kann.
Vielleicht habe ich keine Autobiografie geschrieben, weil ich mich mehr für die Welt interessiere als mich selbst. 
Sie haben nie eine Autobiografie geschrieben, obwohl ihr Leben genug interessanten Stoff dafür liefern würde. Wird es dabei bleiben?
 
Es gibt ja schon zwei biografische Bücher über mich. Mein deutscher Verleger Georg Hauptfeld hat noch ein drittes herausgegeben, das auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt wird. Es hießt „Der Wert des Zufalls“.
 
Sie selbst verspüren also nicht den Wunsch, ihre Geschichte aufzuschreiben?
 
Nein, nicht als Autobiografie. Ich schreibe lieber Lesetagebücher. Und ich habe noch so viele andere Sachen zu schreiben und so viele Pläne, weil die gegenwärtige Welt immer noch in politischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht verstehen will. Jetzt arbeite ich an einem Buch über Tragödie und Philosophie, eine parallele Geschichte. Vielleicht habe ich keine Autobiografie geschrieben, weil ich mich mehr für die Welt interessiere als mich selbst.
 
 
* "Der gute Kamerad", Soldatenlied mit Text von Ludwig Uhland, geschrieben 1809.
** "Ein Mann, der sich Kolumbus nannt" , Kinderlied mit Text von unbekanntem Autor, geschrieben 1745.