Società | Gestaltakademie

GestaltAkademie Südtirol goes to China

Sechs Jahre jung ist die Genossenschaft GestaltAkademie Südtirol. Ihr Schwerpunkt sind berufsbegleitende Fort- und Ausbildungen in Gestalttherapie.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale del partner e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
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Foto: Gestaltakademie Südtirol

Durch ihre internationale Vernetzung mit Instituten und Universitäten, kommt es nun zu einer besonderen Einladung: zu Lehrveranstaltungen und Konferenzbeiträgen in China. Georg Pernter, der Geschäftsführer und Mitarbeiter im Ausbildungsteam der Genossenschaft GestaltAkademie Südtirol wird im September an zwei chinesischen Universitäten Gestalttherapie lehren.

Gestalttherapie wird in psychotherapeutischen Praxen, Beratungsstellen und Kliniken angewendet und hat sich unter anderem auch in der Pädagogik etabliert. Die moderne Gestalttherapie vereint Konzepte psychologischer Ansätze und verbindet sie zu einer neuen Einheit mit einem großen Spektrum der kreativen und effizienten Anwendung um zu intensiveren Sinneseindrücken, mehr Lebensqualität und einem gestärkten Identitätsgefühl beizutragen.

Im Interview erzählt Georg Pernter von seinem Weg in die Gestalttherapie, von der Instagrammisierung unserer Gesellschaft und wie der Ansatz eine Lösung sein kann gegen Populismus und Flüchtlingsängste.

Wer sich tiefer mit dem Gestaltansatz vertraut machen will, kann sich noch für das Auswahl- und Infoseminar der Gestaltakademie am Donnerstag 10.05.2018 von 15-20 Uhr anmelden unter [email protected]

Herr Pernter, wie fanden Sie Ihren Weg in die Gestalttherapie?
Mein beruflicher Werdegang war ein wenig untypisch. Ich hatte Religionspädagogik und Germanistik studiert, wusste dann – nach einem kurzen Abstecher in Volks- bzw. Oberschule – gleich, dass die möglichen Berufsfelder Schule oder Kirche für mich doch nicht in Frage kommen, weil persönlich nicht zufriedenstellend, sinnvoll. Ich wollte etwas tun, was mir mehr entspricht und mich erfüllt. Eine existenzielle Krise gegen Studierende hatte mich schon mit Psychotherapie in Kontakt gebracht und dann mit gestalttherapeutisch orientierten Selbsterfahrungsseminaren. Da sprang der Funke über und ich wusste sofort: Das ist mein Weg. Der war dann tatsächlich ein wenig verschlungen, da ich ja Quereinsteiger bin. Mittlerweile bin ich Österreichischer Psychotherapeut und auch Ausbilder in Gestalttherapie in Südtirol, Deutschland und Österreich. Das stimmt mich dankbar und berührt mich noch immer, weil ich den Mut hatte, den Beruf zu wechseln und v.a. die Geduld, nicht aufzugeben.

Seit wann gibt es die Gestaltakademie Südtirol, und was ist ihr Schwerpunkt?
Die GestaltAkademie wurde Anfang 2012 von südtiroler und deutschen GestalttherapeutInnen als genossenschaftlich organisierte und selbständige Filiale des Instituts für Integrative Gestalttherapie Würzburg (IGW) gegründet. Die Idee war es, in Südtirol Gestalttherapie als wertvollen Ansatz bekannt zu machen in der besonderen Mischung von Praxisnähe und theoretischer Fundierung in Fort- und Ausbildungen sowie in den Formaten von Supervision und Coaching. In den Überlegungen spielte auch eine Rolle, ein großes Netzwerk zur Verfügung zu haben mit Tradition, Erfahrung und interkulturellem Austausch. So profitiert die GestaltAkademie Südtirol von den langjährigen und internationalen Vernetzungen des IGW Würzburg (Kroatien, Schweiz, Österreich, Universitäten in Bolivien, Österreich, China). Das IGW ist nämlich das älteste und größte Institut im deutschen Sprachraum und kann auf eine über 40-jährige Geschichte blicken.

Sie bieten berufsbegleitende Fortbildungen an. Inwiefern unterscheidet sich der Ansatz von alternativen Berufs-coachings?
Die Aus- und Fortbildungen richten sich an Fachkräfte in helfenden, beratenden oder pädagogischen Berufen, an Mitarbeiter in der Wirtschaft mit Führungsverantwortung, aber auch an alle Menschen, die an persönlicher Weiterbildung interessiert sind. Unsere Angebote sind u.a. die 2-jährige Fortbildung „Der Gestalt-Ansatz“ und die 3-jährige Ausbildung „Gestaltorientierte Beratung“ bzw. Counseling-Ausbildung mit zertifiziertem Abschluss in Italien, die europäischen Vorgaben und Richtlinien entspricht. Das Besondere des Gestaltansatzes ist es, dass er existenziell, erlebnisorientiert, experimentell vorgeht. D.h. im Klartext: Lernen in und durch Beziehung, nicht nur kognitiv, sondern auch sensomotorisch und emotional, mit „maßgeschneiderten“ Interventionen auf die konkrete Situation bezogen, phänomenologisch (nicht interpretativ, sondern genau beobachtend, mit dem Fokus auf individuelles Erleben, Wahrnehmung). TeilnehmerInnen lernen durch Selbst-Erfahren, Erleben und Experimentieren, ergänzt mit Theorie und  Literatur, die Methoden und die Grundhaltungen der Gestalttherapie und können diese dann in ihrem jeweiligen Berufsfeld oder als persönliche Weiterentwicklung anwenden. Das macht den Wert aus.

Woher kommt der Gestaltansatz allgemein?
Gestalttherapie wurde vom deutschen Psychoanalytiker-Ehepaar Fritz und Lore Perls sowie dem US-amerikanischen Soziologen, Philosophen und Autor Paul Goodman entwickelt bzw. beschrieben. Sie haben nach einer psychotherapeutischen Methode gesucht, die sowohl die Bewusstheit im Hier und Jetzt als auch Körperlichkeit, Lebensfreude und Kompetenz fördert. Ein Ansatz, der mehr einer ressourcen- und lösungsorientierten als einer krankheitsorientierten Vorgehensweise entspricht. Die Wurzeln des Ansatzes sind Psychoanalyse, Existenzialismus, Phänomenologie, Gestalttheorie, die Dialog-Philosophie Martin Bubers, der Taoismus und Zen ... Gestalt ist einerseits sehr „einfach“, andererseits sehr komplex und letztlich eine hohe Kunst.

Sie sind im Herbst auch in China. Wie verbreitet ist Gestalttherapie in China? Gibt es auch andere Ansätze?
Nach China kamen in den 1980er Jahren nach der Öffnung und Reform einige Verfahren wie die Psychoanalyse, systemische Familientherapie sowie Verhaltenstherapie. Im Moment gibt es noch keine verlässlichen Zahlen. Insgesamt ist zu sagen, dass chinesische Psychotherapie direktiv, ekklektisch und kurz ist. Zur Gestalttherapie lässt sich sagen, dass es vereinzelt bereits Kontakte nach China gab. Erst mit dem IGW begann aber eine kontinuierliche Ausbildung an Universitäten in zwei Städten (Nanjing und Fuzhou). Nun gibt es bereits eine chinesische Vereinigung für Gestalttherapie und chinesische TrainerInnen. Viele fragen sich, ob das denn überhaupt dort ginge, gerade mit der kulturellen Passung in einer angeblich kollektiven Kultur oder mit den politischen Implikationen der Gestalttherapie in solch einem System. Das Besondere für chinesische Verhältnisse ist, dass eher in kleinen Gruppen gearbeitet wird (wobei 30 Leute für Europa viele TeilnehmerInnen sind), die sich für einige Jahre verpflichten müssen (was in diesem Land ein hoher Grad an Commitment ist).

Ihr beruflicher Schwerpunkt liegt in der „Körperlichkeit“. Sie sagen, Menschen verlören ihren Sinn zum eigenen Körper. Ist es nicht im Gegenteil so, dass der Körper mittlerweile zum wichtigeren Kommunikationsmittel mit der Außenwelt geworden ist (siehe Instagram und co.)?
Der Körper hat in unserer Gesellschaft einerseits Hochkonjunktur. Er wird trainiert, tätowiert, gesundtrainiert und gestaltet. Eindrückliches Beispiel sind allabendlich die Bozner Talferwiesen im Frühling und Sommer, wo durchgestylte Jugendliche ihre Muskelpakete zur Schau stellen und sich auf Turngeräten abquälen. Psychotherapeutisch stellt man in unserer Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft eine Instrumentalisierung bzw. Disziplinierung des Körpers fest, eine Unzufriedenheit mit ihm, die als Angst, nicht zu entsprechen interpretiert wird. Der Psychoanalytiker Aigner spricht von einem Ästhetisierungszwang. Gleichzeitig mit der Aufwertung des Körpers ging aber eine Abwertung Hand in Hand. Unsere Gesellschaft ist zwar körperbewusst geworden, gleichzeitig entfremdet sich uns aber alles Körperliche (Empfindungen, Sinnlichkeit) in virtuelle Lebenswelten (Stichworte wie „Facebooknarzissmus“, Instagramisierung, Selfie-Wahn). Es kommt immer öfter zur Entzauberung des Moments, des Erlebens (indem wir alles posten müssen und nicht beim Genuss bleiben). Der Philosoph Byung-Chul Han spricht von der Erlahmung der Erfahrung, die es gilt einzubremsen. Im Alltag wird der Körper meist so behandelt, als ob er uns ähnlich zur Verfügung stehen würde wie unser Auto. Das ist aber eine mechanische Sichtweise. Diese Abspaltung der Körperlichkeit vermindert die Wahrnehmung unserer Selbst und der Welt, in der wir leben. Wir werden abwesend in unseren Interaktionen. Diese Desensibilisierung (die viele Zeitkritiker bemerken) behindert auch unseren Zugang zu Sinn. Das Gewahrwerden der eigenen Leiblichkeit ist nicht nur ein Weg, um sich im Hier und Jetzt mit sich selbst und anderen verbunden zu fühlen, sondern kann auch zu einem erweiterten Selbstverständnis, der Vergrößerung von Handlungsspielräumen und damit zu mehr Freiheit und neuem Sinn führen.

Ein wichtiges Ziel der Gestalttherapie ist es, den Menschen sich selbst näher zu bringen. Warum fällt das so Vielen schwer?
Wir leben in einer sehr besonderen Zeit, die mit Stichworten wie Wissensgesellschaft, Globalisierung, Beschleunigung beschrieben worden ist, mit gesellschaftlichen Umwälzungen, die es dem Einzelnen nicht gerade leicht machen ... Andererseits sind wir ja auch bequem. Denn: Wer verändert sich schon gerne? Das wird ja mit viel Arbeit verbunden und: solange es geht, geht’s halt ... Ein wenig erinnern – das haben andere Autoren auch hervorgehoben – die aktuellen (unruhigen, bewegten) gesellschaftlichen Veränderungen an jene zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Der Gestaltansatz sieht eine seiner wesentlichen Aufgaben darin, unerledigte Situationen aufzugreifen, zu bearbeiten und den blockierten Organismus wieder in Kontakt zu bringen mit dem Fluss der Lebensenergie und dem Austausch mit der aktuellen Lebens-(Um-)Welt. Gestalt ist eine Einladung, unsere Wahrnehmungs-Kompetenz zu schulen, wieder mehr Mut zu existenzieller Auseinandersetzung zu erhalten. Perls sprach davon, dass es darum gehe, wieder eine Mitte zu finden. Dies ist ein lebenslanger Prozess, eine ständige Auseinandersetzung. Es geht heute verstärkt darum, dass wir lernen, der Komplexität der Lebens- und Arbeitswelten vernünftig zu begegnen, dass wir uns dem eigenen Nichtwissen stellen und uns das zugestehen, angesichts von Ungewissheiten, Mehrdeutigkeiten, Zeitdruck. Standartlösungen funktionieren heute nicht mehr und wir müssen schauen, als Einzelne, als Organisationen, als Gesellschaft, trotzdem noch handlungsfähig zu bleiben. Da können meines Erachtens Gestaltprinzipien weiterhelfen, weil sie sich auf unsere Wahrnehmung beziehen, die uns z.B. bei der Mustererkennung in der extremen Informationsflut helfen, die Intuition stärken, Präsenz und Gewahrsein schulen, um den Blick für das Wesentliche nicht zu verlieren und uns helfen, die eigene Selbstbeobachtungskompetenz zu erhöhen.

Welchen Beitrag kann die Psychotherapie für die Gesellschaft leisten?
Man spricht heute von einer Gesellschaft, die durch Todesangst und dem Wunsch bzw. dem Bedürfnis nach Verwurzelung charakterisiert ist. Unser Leben ist – so die Gestalttherapeutin Spagnuolo Lobb – durch folgende drei fundamentalen Erfahrungen geprägt: Terrorismus, Migration und Klimawandel. Da ist einmal das Faktum, dass der Terrorismus quasi vor der Haustür erlebt wird und wir uns schützen müssen (siehe die verzierten Betonblöcke in der Bozner Innenstadt) und wir uns mit dem Gefühl von Ohnmacht und der Existenzangst auseinandersetzen müssen. Dann die Migrationsflüsse, die allgemein das Gefühl der Unsicherheit (das die „Postmoderne“ eh schon auszeichnet) noch verstärken und durch die meines Erachtens in Südtirol einige unaufgearbeitete Themen an die Oberfläche kamen. Manchmal wird mir bewusst, dass ich selbst aus einem Dorf an der Sprachgrenze stamme, wo es früher etliche arbeitssuchende Pendler bzw. Auswanderer gab (in die Schweiz, nach Deutschland) ... Mir wurde das bewusst, als ich beim Zugfahren nach Deutschland plötzlich Polizeiaufgebote und von Migranten überfüllte Bahnhöfe erlebte. Meine These ist, dass uns Südtirolern offene, gesellschaftliche Themen ins Bewusstsein der Gesellschaft „gespült“ wurden wie Fremdsein, Heimat, brüchige Identifizierung ... Wir, ehemals Verfemte, Fremde an der Grenze, Arbeitssuchende wurden zum Teil selbst zu rigorosen Zurückweisern, mit Positionen gegen Hospitalität oder Humanität. (Auch der Soziologe Zygmunt Bauman hat in den letzten Veröffentlichungen darauf hingewiesen.) Ich möchte hier keine moralinsauren Antworten geben, nur zum Nachdenken anregen. Ebenso werden die klimatischen Veränderungen auch hierzulande thematisiert. Diese Erfahrungen sind Angriffe auf die gesellschaftliche Anästhesie oder Abstumpfung und lösen Ohnmachtsgefühle, Unsicherheit, Entwurzelung, manchmal auch nur vereinfachende Positionen aus. Das therapeutische Ziel in der Gesellschaft heute ist nicht so sehr Individuation, sondern das Bedürfnis und Bestreben nach Verwurzelung, nach bedeutsamen Beziehungen, die Frage, wie wir unsere verschiedenen Modalitäten des Miteinanderseins resensibilisieren können, wie wir wirtschaftliche und soziale Polarisierungen gestalten, wie wir präsent sein und reale Kontakte pflegen können, (also jenseits von Facebook und Co) wie wir in Beziehungen bleiben können, auch mit dem Risiko des Scheiterns, der eigenen Unvollkommenheit – als Elternteil beispielsweise. Die Instagrammisierung des Alltags zeichnet bloß alles schön, weich und easy. Es geht auch darum, wie wir wieder fähig werden, Konflikte und Streit auszuleben, das die Gestalttherapie als Kennzeichen für Lebendigkeit und Wachstum begreift, auch als Gesellschaft. Insofern ist jede (gestalt-)therapeutische Arbeit auch hoch „politisch“ und gesellschaftlich relevant.