Società | Kompetenzen

Ein Vorbild für inklusive Bildung

Das neue Kompetenzzentrum erforscht inklusive Bildung. Leiterin Demo über die Vorbildfunktion Südtirols und die italienische Reform zur inklusiven Didaktik.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale del partner e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
Heidrun Demo - unibz
Foto: unibz

Heidrun Demo ist Professorin für inklusive Pädagogik und Didaktik an der Universität Bozen. Seit Herbst leitet sie das neu gegründete Kompetenzzentrum für Inklusion im Bildungsbereich.

unibzone: Zunächst einmal eine grundsätzliche Frage. Was darf man sich unter einer „Inklusiven Pädagogik“ vorstellen und warum benötigt dieses Thema ein eigenes Kompetenzzentrum?

Inklusive Pädagogik zielt darauf ab, die Vielfalt der Kinder und der SchülerInnen im Bildungsbereich sichtbar zu machen, wertzuschätzen und Lernarrangements so offen und vielfältig zu gestalten, dass sie für alle Kinder und Jugendliche bedeutungsvoll sein können. Wenn dies nicht geschieht, dann ist das Bildungsangebot einer Institution unfair: manche Lernformen werden bevorzugt und dadurch entstehen Ungerechtigkeiten für Lernende, die andere Begabungen und Bedürfnisse haben. Viele Forschungsdaten zeigen, dass es unserem Bildungssystem noch nicht gelingt, diesen Ungerechtigkeiten entgegenzuwirken und aus dem Grund ist ein Kompetenzzentrum in diesem Bereich besonders wichtig. Forschung kann Barrieren aufdecken und zur Entwicklung von Lösungsansätzen beitragen.

Welche Mission verfolgt das neu gegründete Kompetenzzentrum und welchen Beitrag leistet es für Inklusion im Südtiroler Bildungsbereich?

Die Forschungsinitiativen des Zentrums verfolgen zwei Ziele. Zum einen möchten wir Erkenntnisse und Befunde des italienischen und Südtiroler inklusiven Bildungsbereichs in den internationalen wissenschaftlichen Diskurs einbringen. Zum anderen soll die Vernetzung mit internationalen Kooperationspartnern dazu dienen, neue Impulse für die Inklusionsentwicklung an Kindergärten und Schulen in Südtirol zu geben, zum Beispiel durch praxisrelevante Forschung.

Warum ist ein solches Zentrum gerade auf Lokaler Ebene wichtig?

Italien und Südtirol haben vor mehr als 40 Jahren eine starke strukturelle Basis für ein inklusives Bildungssystem gelegt. In diesem Kontext wurden an vielen Kindergärten und Schulen wertvolle inklusive Praktiken entwickelt. Forschung, die wissenschaftlich diese Realität analysiert und darstellt, ist aber lückenhaft. Viele europäische Länder, die ebenso eine inklusive Entwicklung anstreben, schauen mit Interesse auf unser Bildungssystem. Südtirol bietet sich mit seiner geographischen Lage besonders gut als Ort, an dem Forschungserkenntnisse zum italienischen inklusiven System in einem internationalen Dialog eingebracht werden können.

Bezüglich Inklusiver Didaktik hat das italienische Bildungsministerium Mitte Januar neue Richtlinien für die Erstellung von sogenannten „individuellen Bildungsplänen“ eingeführt. Wozu dienen diese Pläne und wie kommen sie zustande?

Individuelle Bildungspläne dienen der Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit einer Beeinträchtigung am gemeinsamen Lernangebot. Sie werden einmal im Jahr von einem multidisziplinären Team erstellt, in dem Lehrpersonen, Familie und Vertreter der Sanität gemeinsam das Bildungsangebot für das Kind bzw. den Schüler mit einer Beeinträchtigung planen. Dabei berücksichtigen sie auf der einen Seite die Talente und Bedürfnisse des Kindes bzw. des Schülers und auf der anderen Seite die Kenntnisse und Kompetenzen, die laut Rahmenrichtlinien für die Altersstufe relevant sind.

Zu welchen Änderungen führt diese Reform in der Praxis? Und was bedeuten sie konkret für die Südtiroler Bildungseinrichtungen?

Das Dekret 182/2020 führt tatsächlich einige interessante Erneuerungen ein. Eine erscheint mir zentral. Ich versuche sie anhand eines Beispiels zu erklären. Wir sind in einer Mittelschulklasse, die auch von einem Mädchen mit einer Beeinträchtigung besucht wird, die viel Bewegung braucht. In der Schule wird ein eher traditionellen Unterricht gemacht und es wird von ihr erwartet, dass sie ruhig sitzt, zuhört und unter Berücksichtigung der Gesprächsregeln mitredet. Ihr Bedürfnis, aufzustehen und sich zu bewegen gilt hier als Regelverstoß. Diese Situation kann auf ein Defizit der Schülerin zurückgeführt werden: sie kann (noch) nicht ihr Verhalten regulieren.

Der neue IBP regt zu einem Perspektivenwechsel an: ist die Lernsituation, die angeboten wird, wirklich für alle Schüler und Schülerinnen gut durchdacht? Werden dabei individuelle Talente und Bedürfnisse berücksichtig? Für den spezifischen Fall gilt es, sich die Frage zu stellen, ob das Bedürfnis nach Bewegung dieser Schülerin überhaupt mitgedacht wurde. Zwei Felder des neuen Individuellen Bildungsplans sind genau der Reflexion und Planung des Lernkontextes gewidmet und dadurch werden Kindergärten und Schulen eingeladen, ihre Lernsettings kritisch zu reflektieren.

Welche Potentiale hat die Reform, welche Risiken?

Ein Potential habe ich schon genannt: die Wichtigkeit einer breiten Überdenkung der Lernkontexte für eine inklusive Planung. Eine weitere positive Erneuerung ist die klare Behauptung des Selbstbestimmungsprinzips. An Sekundarschulen sind SchülerInnen mit einer Beeinträchtigung in Erstellung des IBPs direkt beteiligt und auch für jüngere Kinder und SchülerInnen sollen laut Richtlinien aktive Formen der Teilhabe unterstützt werden. Diese klare Fokussierung kann ein Türöffner werden für die stärkere Verbreitung einer Kultur des selbstbestimmten Lernens, mit offenen Lernformen für alle Kinder und Jugendlichen, die sich selbst organisieren und selbständige Entscheidungen treffen.

Ein Risiko gibt es aber auch. Im neuen IBP Modell soll angekreuzt werden, ob –Möglichkeit 1– das Kind /der Schüler immer in der Klasse ist oder –Möglichkeit 2– einige Stunden in anderen Räumen verbracht werden. Flexible Formen der Raumorganisation, in denen SchülerInnen je nach Lernsituation unterschiedliche Räumlichkeiten und Gruppenkonstellationen erleben, können eine Ressource für die inklusive Didaktik darstellen. Es gibt aber genügend Forschungsergebnisse, die zeigen, dass das Verlassen des Klassenraumes leider oft eine Form von Mikro-Exklusion ist, die sich in unserem inklusiven Bildungssystem verbirgt. Es wäre ein Paradox, wenn im IBP so eine Entscheidung als legitim dargestellt wäre.

Welche Neuerungen bräuchte es Ihrer Meinung nach im Bereich der Inklusiven Pädagogik und Didaktik?

Im Rahmen dieser Diskussion zum neuen IBP, stellen wir uns im Kompetenzzentrum auch eine grundlegende Frage: braucht es überhaupt IBPs in einem inklusiven Bildungssystem? Denn einen IBP haben nicht alle Kinder und Schüler und dies wird von den Betroffenen nicht selten negativ im Sinne einer Stigmatisierung erlebt. Wir interessieren uns im Moment für Alternativen, wie inklusive Lern- und Sozialisationsprozesse geplant werden können.