Cultura | Salto Weekend

2084

Der literarische Gastbeitrag von Jörg Zemmler beginnt mit einer Wanderung durch die Landschaft, die in dieser Art und Weise "vor einem Monat" noch undenkbar gewesen wäre.
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Foto: Salto.bz

... Als wir so durch die Landschaft wanderten, hatten wir uns schon fast daran gewöhnt, dass sie niemandem, allen, also auch uns gehörte. Zwar gab es noch Zäune und Mauern, Grenzsteine, wir nahmen sie aber nicht mehr ernst. Die Erde und mit ihr die Welt war unsere geworden. Der Frühling half uns in unserem Heitersein, wir fühlten uns frei. Jedoch gewöhnt hatten wir uns daran noch nicht, nein.

(...)

Für uns war es immer noch sein Auto. Auch für ihn. Irgendwie. Er bot es uns an, zum Leihen. Wir hatten uns überlegt, wie wir schneller in die Stadt kommen könnten. Busse fuhren nicht, der Betreiber war ein Privater gewesen und weigerte sich seit einer Woche, den Betrieb aufrechtzuerhalten, genauer gesagt seitdem in den Nachrichten gekommen war, es sei geplant das Geld innerhalb des nächsten Monats abzuschaffen. Daraufhin hatte es besonders von privaten Unternehmen wütende Proteste gegeben und eben Streiks. Wir waren also an diesem kleinen Bauernhof vorbeigekommen, hatten uns kurz besprochen und angeklopft. Es war uns komisch zumute dabei, aber wir wollten es ausprobieren, wollten sehen, ob es funktioniert und wenn ja, wie. Uns öffnete ein Herr mit freundlichem Bauerngesicht und roten Wangen. "Hallo", begrüßte er uns, "wer seid denn ihr, kommt doch rein." Ob wir die Schuhe ausziehen sollten, nein sagte der Mann. Wir setzten uns an den Küchentisch. "Was führt euch zu mir", fragte er, "Entschuldigung, überhaupt, ich bin der Erwin", sagte er, wir stellten uns auch vor und gaben ihm die Hand. Es wäre uns schon etwas peinlich, es sei das erste Mal, aber fragen koste doch nichts, habe noch nie etwas gekostet und jetzt wohl umso weniger, sagten wir, ob er uns sein Auto leihen würde, um damit in die Stadt zu fahren. Jetzt war es raus. "Klar", sagte er. Und wir hatten schon die Schlüssel in der Hand. Solche Freizügigkeit hatten wir nicht erwartet. Vielleicht war es nur Glück. Wir sollten das Auto dann bei seinem Bruder abgeben und er gab uns die Adresse.

Das Neue war viel zu neu und viel zu groß als dass wir es hätten in so kurzer Zeit verarbeiten können.

Wir bestanden darauf, ihm zumindest das Benzin zu zahlen, das wir bis in die Stadt verbrauchen würden als auch jenes, das sein Bruder brauchen würde, um das Auto wieder zurückzubringen. Das Rückfahrbenzingeld schlug er aus. Es war noch nicht klar, wie es weitergehen würde mit dem Geld - ob es abgeschafft werden würde oder nicht. Wir glaubten schon, er eher, dass nicht. Es schien uns, als seien wir, jeder mit seiner Meinung, auf demselben dünnen Eis. Reine Spekulation. Als wir ihm das Geld gaben, hofften wir, dass er Recht behalten sollte. Geld hatte bis dahin immer gegolten, auf das Geld hatte man sich verlassen können, wenn etwas sicher gewesen war für die Zukunft, dann war es der Fortbestand des Geldes gewesen und so hatte man sich auch auf die Gegenwart verlassen können. Jetzt hatten wir keinen Halt mehr, so ziemlich alles war aus den Fugen und ungewiss. Aber auch aufregend und spannend. Eine neue Zeit und keine Bedienungsanleitung. Wir bedankten uns, wiederholten die Adresse, an der wir das Auto seinem Bruder übergeben sollten und fuhren los.

(...)

 

Wir hatten noch Geld, doch die Frau an der Tankstelle wollte keins. Nachdem sie uns den Tank vollgemacht hatte, sagte sie: "Ich habe schon die Zusage, dass ich in drei Tagen neues Benzin bekomme. Sie machen meinen Tank wieder voll wie ich euren. Und ich werde nichts bezahlen dafür, ich hab es schwarz auf weiß. Was wollt ihr. Wo wollt ihr hin, mir egal, mein Job ist hier Benzin verteilen an wen auch immer welches haben will", und lud uns auf einen Schnaps ein, den wir mit ihr in der Tankstellenkneipe tranken. Nur einen, denn wir wussten nicht, wie es mit der Polizei werden würde. Was aber auch nicht so wichtig war, denn erstens wollten wir weiterkommen und zweitens, mit oder ohne Politessen, wir wollten niemanden überfahren, klar. Das war wie immer.

(...)

Es war das erste Mal, dass wir das neue Leben wie man so sagt am Leibe erfuhren. Vor einem Monat noch wäre es undenkbar gewesen, dass uns dieser Mann seinen Wagen geliehen hätte. Das Neue war viel zu neu und viel zu groß als dass wir es hätten in so kurzer Zeit verarbeiten können. Wir würden Jahre brauchen, wenn nicht gar den Rest unserer Leben. Fast von heute auf morgen war es passiert gewesen. Vorgestern vor zwei Wochen hatten sie es durchgesagt. In aller Frühe. Auf allen Kanälen. Gleich darauf waren schon die Feuerwerke losgegangen. Davon waren wir aufgewacht. Wir hatten uns angezogen und waren auf die Straße gegangen. Dort hatte man es uns erzählt. Ungläubig blieben wir zurück, harrten den Dingen und schauten dem Treiben zu. Es war wie Silvester, nur an einem Montagmorgen und kein Ende in Sicht. Es konnte nicht sein, dass es eine Ente gewesen war. Die halbe Stadt war auf den Straßen und feierte. Ich hatte an die andere Hälfte denken müssen. Alle waren nicht dafür gewesen, aber es betraf, ob sie wollten oder nicht, natürlich alle und also auch sie. Eine Frau bot uns Sekt in Plastikbechern an. Wir nahmen sie, stießen an und tranken auf ex. Die Frau lachte. Sie reichte uns die Sektflasche, sah uns abwechselnd mit zusammengekniffenen Augen eindringlich an und sagte: "Die gehört euch." Wir nickten stumm. Wir wussten, wie sie es gemeint hatte.

Ein Plakat fiel uns auf, darauf stand: "Reichtum ist gerecht." Es waren fast ausschließlich Männer, die demonstrierten.

Während der Fahrt sprachen wir nicht viel. Obwohl wir die Straße in die Stadt schon oft entlanggefahren waren, bisher meist mit dem Bus, war sie anders für uns an diesem Nachmittag. Sogar die Autos, die uns entgegenkamen, erschienen uns freundlicher als früher.

(...)

Schon in der Vorstadt fiel uns auf, dass die meisten Geschäfte geschlossen waren. Vor den Banken, die geöffnet hatten, gab es Getümmel. Wir gingen davon aus, dass viele Leute ihr Geld abheben wollten um sich etwas zu kaufen damit, bevor es keinen Wert mehr hatte. Darum waren wohl die Geschäfte zu. Aus den Hotelfenstern hingen Leintücher. Vielleicht waren sie besetzt worden. Aber wie konnte man etwas besetzen, das sowieso dir gehörte. Wir brauchten ein neues Vokabular. Wir kamen auch an kleinen Demonstrationen vorbei. Die Leute hatten Anzüge an. Ein Plakat fiel uns auf, darauf stand: "Reichtum ist gerecht." Es waren fast ausschließlich Männer, die demonstrierten. Die Autos beachteten die Demonstranten nicht. Sie mussten weiter. Wie wir.

(...)

Erwins Bruder hieß Hermann und war schlecht aufgelegt. Mürrisch öffnete er uns die Tür und bat uns gar nicht hinein. "Ah, das seid wohl ihr mit dem Auto", sagte nur und hielt uns seine geöffnete Hand hin, er wollte wohl nur den Schlüssel und uns so schnell als möglich wieder loswerden. Wir machten es so, wie er es wollte, ohne Gruß viel die Tür ins Schloss. Erwin hatte uns gewarnt gehabt, deshalb machten wir uns nichts daraus. Hermann war der ältere der beiden. Er hatte den Hof, einen Erbhof, nicht haben wollen und war Anlageberater geworden. Sehr erfolgreich, wie Erwin betont hatte. Er war gegen alles gewesen, was irgendwie mit Vergemeinschaftung zu tun gehabt hatte. Natürlich, irgendwie. Dass er jetzt angefressen war - er würde sich über kurz oder lang, wohl eher kurz, eine neue Beschäftigung suchen müssen - lag auf der Hand.

Zurück auf der Straße mussten wir entscheiden, wie wir weiter vorgehen wollten. Wir hatten uns entschlossen, in die Stadt zu ziehen und wahrscheinlich hatten sich das viele andere auch gedacht, das war anzunehmen. Gut möglich, dass wir schon zu spät dran waren, um eine Wohnung für uns zwei zu finden. Wir wollten die Wohnung, sofern wir sie fanden, besetzen, hätte man früher gesagt. Und jetzt? Vielleicht immer noch besetzen, nur jetzt eben im Sinne von "Entschuldigung, ist dieser Platz frei?" "Nein, hier ist leider besetzt." So stellten wir es uns vor. Es war schon Abend und wir entschieden uns, dem Sonnenuntergang entgegen nach Westen zu gehen.

(...)

 

Veröffentlicht in:
"Riots im gläsernen Käfig - Anarchistische Gegenentwürfe - Zwischen Panzern und Piraten", Editon Aramo, Wien 2015 (vergriffen).

Jörg Zemmler, *75 in Bozen, wohnt in Wien und Seis. Studium der Politikwissenschaften in Innsbruck. Gewann u. a. 2013 den Lyrikpreis "Hautnah" von Radio Ö1, 2019 den Peter Oberdörfer Preis. Zuletzt erschienen 2015 "papierflieger / luft" sowie 2018 „Seiltänzer und Zaungäste“ bei Klever, Wien.
www.joergzemmler.net