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Schräge Liebesgeschichten

Heute ist Valentinstag. In der Reihe Wiedergelesen gibt es dazu passend eine Liebesgeschichte mit Viererkonstellation. Aber nicht nur...
Valentin
Foto: Wikipedia

Der Tag der Verliebten wurzelt im 3. Jahrhundert. In Rom regierte Kaiser Claudius II., ein kriegslüsterner Machtmensch, der die Ehe verbieten wollte – zumindest bis zu einem gewissen Alter: Verheiratete Männer waren seiner Ansicht nach schlechte Soldaten. Claudius hatte seine Rechnung ohne Valentin gemacht. Der Bischof im umbrischen Terni, für den die Ehe ein über jedem militärischen Aspekt stehendes Sakrament war, traute junge Paare heimlich. Solche Renitenz nahm der Imperator krumm. Seit dem 14. Februar 269, Valentins Hinrichtungstag, hatte die Stadt Terni einen christlichen Würdenträger weniger, die römisch-katholische Kirche dafür einen Märtyrer mehr. 

Zuweilen birgt der Valentinstag immer noch eine gewisse Tragik.

Der Brauch, am Valentinstag Liebesgrüße auszutauschen, entstand im 18. Jahrhundert. In Frankreich, häufig Ursprungsland in Liebesdingen, waren sie gerade mit der Revolution beschäftigt. Also übernahmen, diesmal ganz unbellizistisch, die Briten. Bald schwappte die Welle des Kartenrituals weiter über den großen Teich. Jenseits des Atlantiks begann Esther Howland Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Massenproduktion gedruckter Valentines. Weltweit werden inzwischen mehr als eine Milliarde Grüße dementsprechend versandt, dass sie am 14. Februar ankommen.


Zuweilen birgt der Valentinstag immer noch eine gewisse Tragik. So starben am 14. Februar 1929 sieben Möchtegernalkoholhändler in einer Chicagoer Garage im Kugelhagel. Auftraggeber war Al Capone. Amerikas einflussreichster Bedürfnisstiller fürchtete um seine Marktführerschaft im hochprozentigen Segment. Statt in der Blütezeit des kapitalistischen, nur vom Prohibitionsgesetz als singulärer staatlichen Intervention durchbrochenen Laissez-faire Ruhe zu bewahren und sich auf das Gesetz von Angebot und Nachfrage zu verlassen, führte Capone mit der Maschinenpistole ein neues deregulierendes Element ein. Dies wiederum brachte den Filmregisseur Billy Wilder auf den Plan. In Manche mögen’s heiß verarbeitete der schwarzhumorige Parodist des American Way of Life die Garagenmähaktion gleich doppelt. 
Wilders Komödie dreht sich um eine Ménage à quatre und endet, auch im Sinn des ehemaligen Bischofs von Terni, recht happy, mit zwei vorhersehbaren Hochzeiten. Ebenfalls um eine Liebesgeschichte mit Viererkonstellation mäandert das Buch, das es am heutigen Valentinstag in die Wiedervorlage geschafft hat. Allerdings verkehren die Protagonisten in Wolfgang Schmidts Roman Die Geschwister um einiges weniger konventionell miteinander als Wilders Figuren. Und leider geht die Geschichte auch nicht glücklich aus.


Hans Wild, der passive, stets auf der Suche befindliche Ich-Erzähler, verehrt seinen hochgebildeten, genialischen, aus einfachsten Verhältnissen stammenden Mitschüler Jordan Tahedl. Dessen Schwester Therese begehrt er, doch bleibt die Beziehung platonisch. Als Partner würde Hans das intime Geschwisterpaar nur stören, als Freund ist er willkommen. Es ist freilich nicht das inzestuöse Verhältnis, im Roman nur angedeutet und wertfrei abgehandelt, das Unheil heraufbeschwört. 

Schmidt ist als Erzähler viel zu souverän, als dass er sich in Kategorien wie Gut und Böse verlieren oder einen vorhersehbaren Ablauf inszenieren würde.

Zur Katastrophe kommt es, als ein Vierter mitmischt, Rochus Wanders, der frühreife Spross einer Spinnereidynastie. Er erpresst Therese zum Sex, indem er droht, Jordans fortgesetzte Seitensprünge mit seiner Mutter, der Fabrikantengattin, publik zu machen. Damit hätte Jordan sowohl gegen den herrschenden Moralkodex verstoßen als auch gegen die religiösen Gebote einer Waldensersekte, zu der sich seine Familie bekennt. Jordan zieht die Reißlinie. Er stellt Rochus eine Falle, lockt ihn ins abgeschiedene Gottesthal, aus dem seine Vorfahren stammen, und versenkt sein Opfer in einem nahegelegenen Wiesenmoor. Rochus taucht nicht wieder auf, der Fall wird nie aufgeklärt. Jordan und Therese ziehen fort. Hans, der einzige Mitwisser, hält im Verhör still. Zuvor hat er seinem Gewissen abgerungen, die „Tat, die gängigen Maßstäben nicht unterworfen war“, zu rechtfertigen. 
Das ist der Stoff, aus dem Trivialromane gewebt sind. Nicht so bei Die Geschwister: Schmidt ist als Erzähler viel zu souverän, als dass er sich in Kategorien wie Gut und Böse verlieren oder einen vorhersehbaren Ablauf inszenieren würde. Jede seiner Figuren ist facettenreich, entwicklungsfähig, mit Stärken und Schwächen ausgestattet und voller Widersprüche. Selbst Rochus, der einzige Unsympath im Roman, ist durchaus zu echten Gefühlen fähig. 
Dagegen verstricken sich Hans und Jordan, beide von einnehmendem Wesen, in ein Geflecht aus Eitelkeit, Egoismus und Eifersucht – Charakterschwächen, die jede für sich schlimmer sind als sämtliche Verstöße gegen eine von wem auch immer diktierte Moral. Jordan, eigentlich ein Freigeist, gleichzeitig Gefangener seiner bäuerlichen und religiösen Herkunft, erträgt es nicht, dass jemand ihm das imaginierte Besitzrecht an seiner Schwester streitig macht. Hans petzt gegenüber Jordan den von ihm im Wald beobachteten, letztlich einvernehmlichen Geschlechtsverkehr zwischen Rochus und Therese. Als Freundschaftsdienst verbrämt, geschieht dies wider besseres Wissen, denn Therese hat Hans unmissverständlich klargemacht, dass keineswegs Rochus das Problem ist. Therese wiederum wirkt unfähig, sich von ihrem fordernden, intellektuell weit überlegenen Bruder zu lösen, auch weil Hans, ebenfalls von Jordan abhängig, kaum als Alternative in Betracht kommt. Rochus schließlich ist alles andere als ein Unschuldslamm, denn auch er hat stets nur den eigenen Vorteil und die Befriedigung seiner Bedürfnisse gesucht. 

In meinen Büchern entdeckt man im Hintergrund immer etwas sehr Unheilvolles
[Wolfgang Schmidt]

Die Handlung spielt 1935 in Český Krumlov (Böhmisch Krumau), einer zu zwei Dritteln von Deutschen bewohnten Kleinstadt an der Moldau. Noch regiert Präsident Masaryk, und Deutsche und Tschechen leben friedlich wenn auch mehr neben- als miteinander. Doch schon hat der Aufstieg von Konrad Henlein begonnen, dessen hitlerfreundliche sudetendeutsche Partei den Weg frei machen wird für den Einmarsch der Deutschen nach dem Verrat der Westmächte an der Tschechoslowakei, auf der Münchner Konferenz drei Jahre später. „In meinen Büchern entdeckt man im Hintergrund immer etwas sehr Unheilvolles“, hat der Autor einmal bekannt, „dies ist mein Ausdruck der geschichtlichen Entwicklungen, die Europa bevorstanden.“ 
Wolfgang Schmidt, 1923 im niederbayerischen Passau geboren und in Krumlov aufgewachsen, begann erst mit 70 zu schreiben. Die Geschwister ist sein Debüt. In den 1990er Jahren hatte er mit seinem Erstling und zwei weiteren Romanen  (Albertines Knie, Sie weinen doch nicht, mein Lieber?) auf dem deutschen Buchmarkt Erfolg. Dann verstummte er plötzlich. Ein schweres Augenleiden hatte ihm, wie sich nachträglich herausstellte, jede weitere literarische Tätigkeit unmöglich gemacht. Im April 2013 setzte er, gemeinsam mit seiner Ehefrau Marianne, seinem Leben ein Ende. Beide waren schwerkrank und konnten kein Leben mehr in Würde führen. Über sechs Jahrzehnte, bis in den Tod, war das Paar zusammen geblieben. Valentin hätte ihm seinen Segen gegeben.  

* Titelbild: Forensische Gesichtswiederherstellung