Società | Journalismus

„Die beste Entscheidung meines Lebens“

Der FF-Gründer, langjährige Chefredakteur und Verleger Gottfried Solderer erinnert sich an seine Studien- und Lehrjahre in Salzburg und den Kampf gegen den Vietnam-Krieg.
soldere, gottfried
Foto: Manuel Gruber
Als die Welt vor 50 Jahren gerade noch in Vollbrand stand und nicht nur in Europa zigtausende auf die Straße gingen, um für mehr Gerechtigkeit, Frieden, Solidarität und Demokratie zu demonstrieren, wurde in Salzburg das Institut für Publizistik und Kommunikationstheorie, der heutige Fachbereich Kommunikationswissenschaft, aus der Taufe gehoben. Einer der ersten studierenden war Gottfried Solderer, ein gebürtiger Südtiroler. Das Salzburger Studierendenmagazin PUNKT. hat sich mit dem Journalisten (unter anderem auch Mitarbeiter beim ORF, der italienischen RAI und bei der deutschen Presseagentur), Mitbegründer und langjähriger Chefredakteur der Südtiroler Wochenzeitung FF und Gründer des Verlages Edition Raetia über die Zeit von damals unterhalten. 
 
Wenn sie an 1969 zurückdenken, was ist ihnen aus dieser Zeit besonders in Erinnerung geblieben? 
 
Gottfried Solderer: Ich habe bemerkt, dass es eigentlich kein Studium war. denn es gab bis auf ein paar Bücher keine wissenschaftlich fundierten Unterlagen für ein Studium. Harry Pross und Hagemann/Prakke mussten wir beispielsweise alle lesen, aber sonst war alles sehr spontan. In der Folge haben ganz viele das Studium unter- oder abgebrochen, sobald sie ihren ersten Job gefunden oder ein Praktikum gemacht haben. Insgesamt war es aber eine interessante, lustige und, so glaube ich, für alle eine gute Zeit. Ich erinnere mich noch gut daran, dass rund 70 Prozent der Studierenden des neuen Studiums Frauen waren und interessanterweise viele bundesdeutsche dabei waren. Angefangen bei Professor Günther Kieslich, dem Chef des Instituts, der wirklich eine liebenswerte Person war, eine eigene Zeitschrift herausgegeben hatte und der kurz vor seinem Tod von uns allen Prüfungen abgenommen hat, weil er gesagt hat, die braucht ihr wahrscheinlich für das Stipendium. zwei Tage später war er tot. Wir haben um ihn wirklich getrauert.
 
 
Sie sind in Südtirol auf einem Bauernhof aufgewachsen: wie hat es sie nach Salzburg verschlagen?
 
Ich war von Kind auf neugierig, wollte immer was erforschen und die Welt sehen. deshalb habe ich auch schon in meiner Oberschulzeit bei der Schülerzeitung mitgearbeitet, meine ersten Artikel in verschiedenen Publikationen untergebracht und Kommunikationsmedien haben mich immer interessiert. Als ich dann gehört habe, dass es in Salzburg dieses Studium gibt, bin ich unter relativ widrigen Umständen dorthin gekommen. Ich hatte kein Geld und habe mir deswegen das Studium meistens über Aufträge finanziert, die Professor Kieslich im Sommer für uns, ein paar auserwählte Studierende, organisiert hatte. beispielsweise haben wir einen Sommer lang eine Input-Output-Analyse des Bundespresseamtes in Deutschland gemacht, einen anderen Sommer mit vorgefertigten Fragebögen Kritiker*innen der Salzburger Festspiele befragt sowie anhand der Zeitschrift der Journalist untersucht, welche Anforderungen an Jungjournalist*innen gestellt werden und welche Bedingungen sie erfüllen sollten, damit sie irgendwo aufgenommen werden.
Vielmehr haben wir am Anfang gelernt, wie die Ägypter sich mit Feuersignalen verständigt haben – aber Praxis hatten wir keine. Deshalb habe ich dann auch im engeren Beirat der
Wie hat es damals generell im Studium mit praktischen Inhalten ausgesehen?
 
Das ist ein wichtiges Thema, weil wir vom Lehrplan, der uns vorgegeben wurde, relativ enttäuscht waren. Wir fragten uns, was wir mit dem Studium danach anfangen sollen. Die meisten von uns sind in die Werbebranche oder in den Journalismus gegangen. Wir wurden aber keine Wissenschaftler*innen. Dafür fehlte im Studium die wissenschaftliche Basis. Vielmehr haben wir am Anfang gelernt, wie die Ägypter sich mit Feuersignalen verständigt haben – aber Praxis hatten wir keine. Deshalb habe ich dann auch im engeren Beirat der Programmdiskussion vorgeschlagen, eine Proberedaktion einzurichten. 40 Student*innen haben sich hierfür gemeldet, ich wurde spontan zum Chefredakteur ernannt und wir haben auch mit den Salzburger Nachrichten zusammengearbeitet. Da hatten wir dann viele Möglichkeiten: Aufgeteilt in die verschiedenen Ressorts haben wir überall Gratis-Eintrittskarten bekommen – die einen konnten ins Konzert, andere ins Kino. Wir haben allerdings drei Wochen gebraucht, um die erste Zeitung fertigzustellen, aber es hat funktioniert und die Leute haben erstmals praktische Erfahrungen gemacht.
 
Wie war dabei das Verhältnis zu den Dozent*innen? 
 
Das Verhältnis war überhaupt nicht schwierig und wir hatten zu den Professor*innen einen guten Kontakt. So hat man uns Studierenden, als Professor Kieslich gestorben ist und man an der Fakultät nicht wusste, wie man programmmäßig weitermachen soll, sogar erlaubt, in einer Gruppe von drei Studierenden Vorschläge für die nächsten Lehrveranstaltungen zu machen und auch für die Nachfolge Kieslichs Professor*innen einzuladen. Bei der Anhörung war das Dekanat natürlich dabei, aber die Vorschläge kamen von uns Studierenden. Es waren also sehr flache Hierarchien insgesamt.
 
Und wie war das Studierendenleben damals in Salzburg? 
 
Das war von sehr viel Spontanität geprägt, vor allem im Privatleben. Aber dies war auch die Zeit, in der man gegen den Vietnamkrieg protestiert hat. Und da haben wir auch unsere Gruppen gebildet. Wie dann 1972 US-Präsident Nixon auf dem Weg zum Sowjet-Führer Breschnew war um über Vietnam zu verhandeln und in Salzburg Zwischenstation machte, haben wir eine Großdemonstration organisiert. Letztlich waren es rund 3.000 Leute bei der Kundgebung und im geheimen hatten wir als kleine Gruppe noch ausgemacht, den Flughafen bei Nixons Landung zu besetzen und uns auf die Landebahn zu legen. Unter anderem war damals auch Peter Kreisky, der Sohn des ehemaligen österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky, mit dabei. Erst als die 200 oder mehr Polizisten uns 200 Beteiligte weggeprügelt hatten, konnte Nixon nach einer Stunde in der Warteschleife landen. Und einen Tag später habe ich mit ein paar Kollegen die amerikanische Flagge beim Hotel angezündet, in dem der US-amerikanische Außenminister Rogers nächtigte. Da habe ich auch nochmal ordentlich Prügel von der Polizei abgekommen. Also einerseits waren wir privat locker unterwegs, spontan, aber trotzdem sehr politisch engagiert. Nicht alle natürlich: Es gab Salzburger Publizistikstudentinnen, die da überhaupt nicht mitmachten, weil die von ihren Eltern finanziert wurden und sich auf ihre Karriere vorbereitet haben. Mit denen hatten wir weniger Kontakt. 
Einen Tag später habe ich mit ein paar Kollegen die amerikanische Flagge beim Hotel angezündet, in dem der US-amerikanische Außenminister Rogers nächtigte. Da habe ich auch nochmal ordentlich Prügel von der Polizei abgekommen
 
Waren diese Proteste nicht ein Widerspruch zum Salzburg der Festspiele? 
 
Salzburg als Stadt war immer schon wirtschaftsorientiert, sehr konservativ ausgerichtet und im Grunde sehr empört, dass wir dort Proteste organisiert haben. Ich selbst habe von meinem Hausherren quasi die Kündigung bekommen, als er mich von seinem Balkon aus beobachtet hat, wie ich in dieser Menge der Demonstrant*innen unterwegs war.
 
 
Es war ein großer Widerspruch zwischen dem Lebensstil der Salzburger*innen und dem Festspielcharakter und unserer Organisation. Beispielsweise haben wir Studierende auch immer wieder versucht, bei den Salzburger Festspielen einen Job als Kulissenschieber*innen zu bekommen. Einen Tag vor der Premiere hat uns Herbert von Karajan dann eingeladen und gemeint, wir sollten froh sein, dass wir bei ihm zum Nulltarif arbeiten dürften. Für uns war klar: So, das geht jetzt nicht und haben mitteilen lassen, dass wir schon zur Premiere nicht mehr zum Kulissenschieben kommen und die Festspiele ausfallen. Da haben wir sofort das Geld bekommen.
 
Was waren eigentlich Ihre Motive für diesen politischen Aktivismus? 
 
Motivation war vor allem der Vietnamkrieg, bei dem wir gemerkt haben, dass es nur um Wirtschaftsinteressen geht, aber auch die Ungleichheit in der Welt. Auch wir selbst stammten alle nur aus Familien, die nicht sehr wohlhabend waren und dann hat es auch fasziniert, da einfach irgendwie mitzutun und auch dagegen zu sein. Man wollte nicht einfach alles akzeptieren.
 
Also Weltverbesserer*in oder Revoluzzerin*innen? 
 
Missionarisch waren wir sicher nicht. Wir wollten schon was erreichen, nicht reine Weltverbesser*innen sein, sondern im Grunde schon die Welt verändern. Ich war ja dann auch Pressereferent des Skolasten (Anm.: Zeitschrift der Südtiroler HochschülerInnenschaft) und hab dort auch entsprechende Artikel geschrieben, in dem ich eine linke Massenbewegung in Südtirol gefordert habe. 
 
Daneben war dann ja auch noch ein großes Interesse für Medien, wenn man sich Ihren beruflichen Werdegang nach dem Studium anschaut. 
 
Das Interesse für Medien war bei mir immer schon sehr präsent und ich habe dann ja auch noch die Akademie für Publizistik in Hamburg besucht – das war eine der schönsten Erfahrungen meines Lebens. Rein zufällig hatte ich in den Salzburger Nachrichten drei Zeilen gelesen, dass die Akademie für Publizistik in Hamburg wieder öffnet und vielmehr stand da erstmal nicht. Ich habe dann trotzdem eine Anfrage nach Hamburg gerichtet, die damals erstmals abgelehnt wurde mit dem Argument, dass nur Jungjournalist*innen aufgenommen wurden, die schon ein Praktikum in Medien gemacht hatten und aus den norddeutschen Ländern kamen, die die Akademie finanzierten. Ich habe Professor Kieslich dieses Schreiben gezeigt und er hat nur gesagt: „Mach ich.“ 
Wir hatten wunderbare Professor*innen, darunter Hellmuth Karasek, der dann später mein Freund wurde.
Ich habe mir nichts mehr weitergedacht, aber eines Tages erreichte mich ein Telegramm, in dem drinnen stand, dass ich zugelassen bin und 600 D-Mark für Hotel Aufenthalte plus die Fahrt Spesen bekomme. Dann bin ich natürlich hingefahren. Wir hatten eine wunderbare Unterkunft in der früheren preußischen Botschaft an der Alster, wunderbare Professor*innen, darunter Hellmuth Karasek, der dann später mein Freund wurde. Später habe ich auch den Grund verstanden, warum Professor Kieslich das durchgesetzt hatte. Er hatte eine ganz ähnliche Einrichtung in Düsseldorf und er hat mich quasi als Spion hingeschickt, denn er wollte wissen, wie das in Hamburg abläuft. Insgesamt konnte ich in dieser Zeit sehr viel für meine weitere journalistische Laufbahn lernen.
 
Apropos journalistische Laufbahn: Sie waren 1974-1980 Journalist beim Rai-Sender-Bozen in Südtirol, Südtirol-Korrespondent der deutschen Presseagentur und gelegentlich auch Mitarbeiter der Tiroler Tageszeitung und des ORF. Wie bekommt man das alles unter einen Hut? 
 
In dem Augenblick, in dem ich begonnen habe, journalistisch aktiv zu sein, habe ich meine politische Tätigkeit zurückgesteckt, weil es als Journalist notwendig ist, unabhängig sein. Sonst wird man unglaubwürdig. Die Wahrheit findet man sowieso nicht, weil es die nicht gibt. Und wenn man jung ist, hat man jede Menge Energie. Es war so, dass ich zwei Jahre bevor ich Journalist bei der Rai wurde, 1972 eigentlich meine Doktorarbeit schreibe wollte. Ich ging nach München, weil dort 1973 die Bundestagswahlen stattfanden, in denen es um das Schicksal von Willy Brandt ging und ich hatte mir eine Doktorarbeit zum Thema „Das dialektische Verhältnis zwischen bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit“ ausgesucht. Aus diesem Grund bin ich auch den Jungsozialisten beigetreten – das SPD -Parteibuch habe ich heute noch zuhause, wenn ich auch nie mehr eingezahlt habe – und war dann auch im Wahlkampf aktiv. Und dann hat mein damaliger Professor aber gesagt, das Thema interessiere ihn nicht. Bald darauf bekam ich dann die Möglichkeit, bei der Rai (Anm.:  italienischer öffentlich-rechtlicher Rundfunksender) anzufangen und bin nach Südtirol zurück. 
Erst später habe ich auch noch mein Studium in Salzburg abgeschlossen, denn wie so viele hatte auch ich unterbrochen.
 
 
Während meiner Arbeit bei der Rai habe ich nämlich einmal mein finanzielles Tagebuch durchgelesen, das ich von Oktober bis zu meinem ersten Stipendium im Januar in meinem ersten Jahr 1969 in Salzburg geführt hatte: Da war ein einziges großes Bier dabei! der Rest waren die Miete, Unterlagen und ein bisschen was zum Essen. Wie ich dieses Tagebuch angeschaut hab, habe ich mir gesagt: Du bist ein Schuft, jetzt wo es dir gut geht, schließt du nicht das Studium ab. Deshalb habe ich auch den damaligen Professor Schmolke angerufen und ihm gesagt, dass ich alle Prüfungen habe und mir nur das Doktorandenseminar fehlt, und hab ihm auch meinen Vorschlag für meine Doktorarbeit über die Rundfunkgeschichte in Südtirol gemacht. Er war hoch erfreut, wieder einen Reuigen ins Institut zurückholen zu können, und so bin ich dann drei vier Mal zu diesem Doktorandenseminar gefahren. Nach meinen intensiven und schwierigen Recherchen in Frankfurt, Koblenz, Wien, Innsbruck und Rom habe ich im September 1979 meine drei Wochen Urlaub genutzt und angefangen, die Dissertation zu schreiben. Im April habe ich 350 Seiten abgeliefert und am 10. Juli 1980 promoviert. Und dies alles neben meiner Arbeit beim Rai Sender Bozen.
Die Rai war quasi eine Lebensversicherung für eine*n Journalist*in. Ich habe gekündigt, weil ich das Angebot hatte, die ff mitzugründen
Und gleichzeitig auch bei der Rai gekündigt: Warum? 
 
Ich bin als erster Rai-Journalist 1980 weggegangen, alle wollten in die Rai und niemand wollte raus – die Rai war quasi eine Lebensversicherung für eine*n Journalist*in. Ich habe gekündigt, weil ich das Angebot hatte, die ff mitzugründen und mich hat einfach was Neues interessiert. Hingegen zum Monopol, der Tageszeitung Dolomiten, zu gehen, hätte mich nie interessiert. Nach einer bestimmten Zeit habe ich aber gemerkt, dass es nach 20 Jahren Lokaljournalismus fad wird, weil man die Geschichten alle gekannt hat, ebenso wie die Leute. Ich wollte mich öffnen und hab dann die Chance bekommen, den Raetia Verlag zu gründen, der mir wirklich eine ganz neue Welt mit vielen neuen Kontakten eröffnet hat. 25 Mal auf der Frankfurter Buchmesse mit einem eigenen Stand, viele Autor*innen und Verleger*innen. Es war für mich eine ganz wichtige Entscheidung.
 
Wie beurteilen sie rückblickend eigentlich die Entscheidung in Salzburg Publizistik studiert zu haben? 
 
Ich bin eigentlich nur durch einen relativen Zufall zu diesem Studium gekommen, denn ich hatte Herzprobleme. Mein Arzt hatte mir nach meiner Matura geraten, ich sollte ein Jahr aussetzen. Ich habe dann aber ein paar Leute kennengelernt, die in Salzburg studiert haben und die sagten: Du kommst jetzt nach Salzburg! Unterbrich die Studienjahre bitte nicht, weil sonst gehst du nach dem ersten verdienten Geld nie mehr auf die Universität! Sie hatten für mich bereits eine Wohnung besorgt und dann bin nach Salzburg. Das war wahrscheinlich die beste Entscheidung, die ich im Leben getroffen habe. und durch meine Neugierde bin ich zu all diesen Möglichkeiten gekommen. Wenn man die nicht hat, dann kommt man zu nichts. Und man muss Niederlagen einstecken können und im Leben nur einmal öfter aufstehen wie hinfallen.