Società | Inklusion

"Praxisweisheit weitergeben"

Prof. Simone Seitz erklärt, wie im neuen Kompetenzzentrum für Inklusion Praxis und Theorie Hand in Hand gehen und weiterentwickelt werden.
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Kompetenzzentrum
Foto: Foto: unibz

Bereits mit einem Gesetz auf Landesebene im Jahre 2015 in die Wege geleitet, ist das Kompetenzzentrum nun seit diesem Jahr operativ. Direktorin des Zentrums ist Prof. Heidrun Demo, Vizedirektorin Prof. Simone Seitz, ebenso beteiligt sich die Forscherin Vanessa Macchia. Am 14. Oktober stellten sie sich in einer Pressekonferenz an der Freien Universität Bozen vor. Das Gremium steht in enger Zusammenarbeit mit weiteren Inklusionsexpert*innen wie dem Professor Dario Ianes von der Universität Bozen, sowie diversen Professor*innen, die über die Landesgrenzen hinaus in Europa tätig sind.

„Kompetenzzentren sind für die Universität ein Instrument, um Forschung in Bereichen voranzutreiben, die für Südtirol besonders wichtig sind“, so der Prorektor für Forschung Prof. Johann Gamper. Dabei werde im Kompetenzzentrum gerade im Vergleich zur sonstigen Arbeit der Fakultät der Bildungswissenschaften mehr Augenmerk auf die angewandte Forschung in Zusammenarbeit mit lokalen Stakeholdern gelegt.

In der inklusionsbezogenen Bildungsforschung werden die Bildungspraxis, die Professionalisierung und Qualifizierung von Fachpersonal und die Entwicklung des Bildungssystems untersucht. Der Grundstein für diese Forschung ist die Frage, wie die Partizipation und das Lernen aller Kinder – mit all ihren Verschiedenheiten in einem heterogenen Klassenraum – gewährleistet werden kann.

Das Fachgebiet der Inklusion in der Forschung und Ausbildung ist an der Universität Bozen bereits präsent, so gebe es zum Beispiel das Angebot von Spezialisierungslehrgängen für Integrationslehrpersonen, geleitet unter anderem von Prof. Simone Seitz. Nun solle das Gebiet durch die Arbeit des Zentrums noch weiter vertieft, und das Inklusionsmodell, dass es hierzulande gibt, noch weiter gehoben werden.

Die Ziele, die sich das Kompetenzzentrum gesetzt hat, sind vor allem die Forschung voranzubringen, Weiterbildung zu ermöglichen und internationale Vernetzung zu betreiben. Das alles, „indem wir den Inklusionsbegriff theoretisch rahmen und uns konkreten Fragen aus der Praxis widmen.“, so Vize-Direktorin Prof. Simone Seitz.

Mit dem Kompetenzzentrum investiert unsere Universität in die Weiterentwicklung sowie das Sichtbarmachen unseres besonderen Inklusionsmodells

Italien und Südtirol habe im internationalen Vergleich eine Vorreiterposition, dies wurde bei der Vorstellung betont: Man könne sich auf langjährige Erfahrung und gewachsene Strukturen berufen: Seit 1971 ist in Italien gesetzlich festgelegt, dass Schüler*innen mit Beeinträchtigung Regelschulen besuchen. Damit differenziert sich das italienische System schon in seiner Basis und seinen damit verbundenen Möglichkeiten der Inklusion von Bildungssystemen mit Sonderschulen, wie sie beispielsweise im deutschsprachigen Raum vorzufinden sind.

Zielsetzung des Zentrums sei es daher, das zu leisten, was dem Südtiroler und italienischen Inklusionsmodell bisher fehle, nämlich konkrete Daten zu sammeln, um dieses beschreibbar und lernbar zu machen und in einen internationalen Diskurs einzubringen.

Ebenfalls betont wurde die vielfältigen Brückenfunktionen des Zentrums: der Südtiroler Sprachraum, welcher das Hineintragen von Konzepten in den deutschsprachigen Raum ermögliche, ebenso wie die Forschungsfragen, die Praxis und Forschung miteinander verbinde.

„Mit dem Kompetenzzentrum investiert unsere Universität in die Weiterentwicklung sowie das Sichtbarmachen unseres besonderen Inklusionsmodells “, erklärte die Direktorin des Kompetenzzentrums Prof. Heidrun Demo im Rahmen der heutigen Pressekonferenz.

Betrieben würden Forschungsprojekte mit lokaler Relevanz mit einer starken Bindung zum Territorium. Daher sei ein enger Austausch und eine Kooperation der Forschung mit Lehrpersonen und Familien von Bedeutung.

Die gewünschte Praxisrelevanz und der Wissenstransfer sollten durch einen engen Dialog mit den drei Bildungsdirektoren des Landes garantiert werden. Stellvertretend sagte Giuseppe Augello von der italienischen Bildungsdirektion: „Die Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum gibt immer wieder wertvolle Impulse für eine kontinuierliche Weiterentwicklung der inklusiven Praxis an unseren Schulen“, die vonnöten sei, um sich auch organisationalen Herausforderungen zu stellen.

Das Konzept Inklusion ist nie fertig

Operativ seit März dieses Jahres haben sich laut Gremium, aufgrund der Covid-19-Pandemie gerade die ersten Monate der Arbeit als Herausforderung bewiesen, denn: „Das Konzept Inklusion ist nie fertig“, erklärte Vize-Direktorin Prof. Simone Seitz, „Umwelt und Gesellschaft verändern sich und es ist unsere Aufgabe, ein waches Auge auf Ungleichheit im Bildungsbereich zu haben“. So müsse auch unter veränderten Bedingungen darauf geachtet werden, dass Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrer Befähigung, dem Beherrschen der Schulsprache oder der ökonomischen Lage gleichberechtigt am Unterricht teilhaben können.

unibzone sprach im Anschluss an die Pressekonferenz mit der Vize-Direktorin Prof. Simone Seitz über die Arbeit des Kompetenzzentrums.

 

unibzone: Die Idee des Kompetenzzentrums entstand bereits 2015. Was ist von dort an passiert und wie hat sich diese Idee weiterentwickelt?

Simone Seitz: Ich selbst bin erst seit 2020 an der Universität Bozen. Die Entwicklung kennt Frau Demo besser, da sie die fünf Jahre bis zur Gründung mitverfolgt hat.

Heidrun Demo: Es handelte sich um mehrere institutionelle Schritte. Die Idee wurde zwar zu dem Zeitpunkt im Gesetz verankert, aber bis man den Auftrag auch universitätsintern wirklich institutionalisieren konnte, brauchte das Zeit. Wir hatten zum Beispiel noch keine Regelung für Kompetenzzentren, von daher braucht es mehrere Schritte bis zur Gründung.

unibzone (an Simone Seitz): Sie sind bei Ihrer Ankunft dann sofort in das Kompetenzzentrum integriert worden, richtig?

Simone Seitz: Genau, ich bin im Januar mit meiner Professur an der Universität Bozen gestartet und bin sofort in das Kompetenzzentrum eingestiegen, das dann ja im März offiziell startete. Das wurde mir direkt als Aufgabe angetragen.

Wie sehr hängt Ihre Arbeit und Lehre in der Fakultät der Bildungswissenschaften mit Ihrer Arbeit im Kompetenzzentrum zusammen?

Ganz konkret spiegelt es sich zum Beispiel darin wider, dass wir angegliedert an das Kompetenzzentrum auch Qualifizierungsaufgaben mit in den Blick nehmen, also z.B. Nachqualifizierungen von Tätigen in Schulen und Kindertageseinrichtungen. Da bin ich konkret tätig. Ich leite einen Studiengang, der als Weiterbildungsstudiengang organisiert ist, wo Lehrpersonen der Sekundarstufe (Mittelschule und Oberschule) qualifiziert oder nachqualifiziert werden für inklusive Praxis, im Falle dieses speziellen Studienganges. Das ist ein konkretes Feld, wo Lehre und die Forschung zusammengeführt sind: in dem Auftrag, in der Region anwendungsorientierte Konzepte zu entwickeln und diese weiterzugeben. Ich lehre versuche mit den in der Praxis verankerten Studierenden gemeinsam, solche Konzepte mit meinem Wissen über inklusive Didaktik zu entwickeln.

Was wäre ein Beispiel für ein solches Konzept?

Zum Beispiel stellen wir uns die Frage: Wie gestalte ich einen Unterricht, von dem alle profitieren, auch fachdidaktisch konkretisiert in der Mittelschule. Wie können wir beispielsweise Mathematikunterricht so gestalten, dass jedes Kind individuell herausgefordert wird und an der jeweils eigenen aktuellen Leistungsgrenze lernt? Das also nicht alle das Gleiche zum gleichen Zeitpunkt machen und eben nicht mehr die Idee existiert, dass alle in den nächsten 45 Minuten das Gleiche lernen. Wir wollen hin zu einem offeneren Unterricht, wo jeder herausgefordert wird, aber die Klasse sich trotzdem als Gemeinschaft fühlt. Das heißt, es gibt einen inhaltlichen gemeinsamen Aufhänger, an dem gearbeitet wird. Das ist ein sehr konkretes Beispiel dafür, wie wir an Unterrichtskonzepten arbeiten, und diese dann in der Lehre bearbeiten. In dem Falle des Weiterbildungsstudienganges handelt es sich um Praktiker*innen, die ihre Ideen einbringen, sie sind von Montag bis Donnerstag in der Schule und am Freitag und Samstag in der Lehre. Da bindet sich das Ganze zusammen: Praxiserfahrung, wieder Input, wieder Zurückführung, Reflexion.

Ist diese Idee, dass Schüler nicht mehr in der gleichen Zeit das Gleiche lernen müssen, ein erster Ansatz um organisationalen Herausforderungen der inklusiven Didaktik zu begegnen, von denen Giuseppe Augello heute gesprochen hat?

Die Grundstruktur „Heterogenität“ als zentrale Idee für Unterricht einzuziehen, damit hat man eine Mentalität weiterentwickelt, die ein Schlüssel für ganz Vieles ist. Wenn ich mich von der Vorstellung löse, meine Lerngruppe sei homogen und mich stattdessen auf die Vorstellung einlasse, dass es eine heterogene Lerngruppe ist, dann komme ich zu anderen didaktischen Antworten. Das ist ein bedeutsamer „Eye-Opener“ für neue didaktische Kreativität.

Wie war die Zusammenarbeit in den ersten Monaten mit dem Bildungswesen hinsichtlich der besonderen Situation der Gesundheitskrise? Wie konnte das Thema der Inklusion im digitalen Unterricht eingebracht werden?

Wir haben während des Lockdowns einen „Open Dialog“ gestaltet und haben Lehrpersonen angeboten, sich über ein digitales Forum auszutauschen und von uns Impulse mit aufzunehmen. Wir haben teilweise beraten, aber teilweise auch den Raum gegeben, dass sich die Lehrpersonen gegenseitig beraten, um das digitale Lernen unter diesen Bedingungen voranzubringen. Die zentrale Frage war, wie ich das, was inklusiven Unterricht auszeichnet – das heißt ein kooperatives Zusammenlernen und am gleichen Gegenstand unterschiedliche Dinge zu lernen – nach wie vor leisten kann. Diese Frage haben wir uns gemeinsam gestellt, da waren wir wirklich so etwas wie „Critical Friends“, weil das für uns in der Forschung ja auch eine neue Herausforderung war. Wir konnten ja keine Schublade aufmachen und sagen: „Hier ist das Lockdown-Konzept, das können Sie anwenden“, wir waren ja fast mit deckungsgleichen Fragen unterwegs und hatten nur einen theoretischen Rahmen und einen Fundus an Ideen, die wir hinterlegen konnten.

Das ist ja eigentlich ein interessanter Auftakt für die Arbeit des Kompetenzzentrums, in der die enge Zusammenarbeit mit Schulen und Lehrpersonal aus der Region ein zentrales Anliegen ist.

Ja, genau. Sich dieser neuen Situation zu stellen, war ja auch eine Art offener Forschungsfrage. Da waren wir wirklich auch Partner der Schulen und selber daran interessiert, welche Ideen Lehrpersonen entwickeln. Ich habe dabei auch viel von den Lehrpersonen, mit denen ich digital konferiert habe, gelernt.

Vorhin war oft von der internationalen Kooperation des Kompetenzzentrums die Rede. Wie könnten sich solche konkret gestalten?

Prof. Simone Seitz: In Forschungskooperationen, also indem wir beispielsweise gemeinsam Mittel für die Forschung beantragen über bestimmte Programme. Das heißt europäische Programme, für die wir Anträge schreiben und dann international vergleichende Forschungsfragen stellen. Wir fragen zum Beispiel: Mit welchen Vorstellungen von schulischer Leistung hinterlegen eigentlich Lehrpersonen in diesem inklusiven System hier ihr praktisches Handeln, versus wie sie dies in einem anderen System tun, und was man daraus ableiten kann.

Was erhoffen Sie sich von Ihrer Arbeit im Zentrum?

Ich wünsche mir für meine Arbeit hier vor allen Dingen Erkenntnisse. Ich wünsche mir, die Praxisweisheit, die hier vor Ort einfach da ist, beschreibbar machen zu können um sie dann auch an Studierende der Universität weitergeben zu können. Ich würde gerne die Praxis mit nach vorne bringen und einen Beitrag dazu leisten, dass Kinder hier an Bildung partizipieren können und dies in einem Klassenraum wirkungsvoll umgesetzt werden kann.

Und sehen Sie für die Mission, die sich dieses Kompetenzzentrum gegeben hat, einen Vorteil in der Dreisprachigkeit und der internationalen Ausrichtung der Universität?

Wir sind ja auch im Team dreisprachig, daher benutzen wir als Gremiensprache Englisch, auch im Kompetenzzentrum. Das heißt, wir sind international aufgestellt und sehen die Mehrsprachigkeit der Universität als Ort der Vielfalt: Wir sind auch eine Gemeinschaft der Verschiedenen. Mit den unterschiedlichen Sprachkulturen, die sich hier verbinden, braucht es viel Verständigungsarbeit. Es ist eigentlich wie ein Spiegel zu dem, was inklusive Pädagogik macht. Von daher ist die Freie Uni Bozen der perfekte Ort, um Inklusionsforschung zu betreiben.