Cultura | Salto Afternoon

Äpfel und Spatzen

Der Historiker Hannes Obermair referierte kürzlich bei der Tagung der Südtiroler Autorinnen und Autoren über Südtiroler Identitätskonstruktionen. Ein Gespräch.
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Foto: Foto: Salto.bz

salto.bz: Sie haben auf der Veranstaltung der SAAV über die Schwierigkeit, ein Kastelruther Spatz zu sein, referiert. Was konnten Sie feststellen?
Hannes Obermair: Das Bonmot war natürlich eine indirekte Ehrerbietung gegenüber Claus Gatterers Essay von 1981, der den weit seriöseren Titel „Über die Schwierigkeit, heute Südtiroler zu sein“ trug. Da die Tagung der SAAV nach den Tiefen und Untiefen von „Identität“ gefragt hat, wollte ich nicht nur theoretisch-philosophisch darauf reagieren, sondern ganz aktuelles Material verwenden und aus gebotenem Anlass die Aporien des Kastelruther Weltbilds zur Sprache bringen. Der Besuch des Innenministers und Vizepremiers auf dem Spatzenfest kurz vor den Südtiroler Landtagswahlen, seine Einkleidung mit dem blauen Fürtuch durch einen lokalen „Schwertträger“, das fröhliche Zuprosten einer heimischen Skipersönlichkeit – das alles bot grandioses Anschauungsmaterial für ein so tumbes wie hochidentitäres Ritual. Es erinnerte – wenn auch als billige Farce – an eine hochmittelalterliche Schwertleite bzw. an das Hochamt einer katholischen Messe. Die entscheidenden Momente – der blaue Ritterschlag als Zeichen der Inklusion, das Schwenken der Bierkrüge als kontrafaktische Wandlung – wurden vielfach medial festgehalten und in den elektronischen Äther versandt und dort tausendfach geliked.

Die Kastelruther Spatzen pfeifen mehr oder weniger in das gleiche Horn wie die Rocker von Frei.Wild. Ist dieses Mir sein Mir-Denken überhaupt „Südtiroler Identität“?
Die Spatzenband ist die softe Version derselben musikalischen Herstellung von tribalem Gruppendenken. Wenn man es zu Ende denkt, die gefährlichere, weil unmerklichere Variante derselben Wir-Maschine. Ich würde aber keinen Gegensatz konstruieren zwischen dem „Mir san mir“ und einer sonstwie gearteten „Südtiroler Identität“. Jegliche kollektive Identität ist mir suspekt, selbst wenn sie sich auf edle und aufgeklärte Motive berufen sollte. Ästhetische Produktion, wozu Musik unter anderen Medien gehört, die nicht selbstreflexive Individualität abbildet und diese fördert und stärkt, ist unterkomplex und im Grunde banal. Wenn sie zudem, wie im Kastelruther Fall, regionale kollektive Identitäten bedient, folgt sie letztlich ethnodeterministischen Prinzipien und verbirgt damit latente Behauptungs- und Raumansprüche. Also das sattsam bekannte „Wir zuerst!“.

Luis Trenker hat im großen Stil ein Südtirol-Bild verfolgt und medial gepflegt. Ist es sogar manchmal noch dieses falsch überlieferte Südtirol-Bild, welchem Tourismus und Kultur nicht entkommen? Und somit auch viele Südtiroler/innen?
Das in den 1970er und 1980er Jahren so mächtige Trenkerbild ist vermutlich längst abgelöst durch modernisierte Varianten einer kleinregionalen „Lederhose mit Laptop“-Utopie. Sie wird dann zur Dystopie, also zur strukturellen Vergangenheitsvergessenheit, wenn sie das angeblich „Südtirolische“ als zeitgenössische Variante selbstbewusster Modernität beschwört und verklärt. An die Stelle des Regionalmythos kann nur dann Selbsterkenntnis treten, wenn den Akteuren ihre eigene Kontingenz, also schiere Zufälligkeit und zugleich Gewordenheit, bewusst bleibt. SüdtirolerInnen sollte man natürlich nichts vorschreiben wollen, aber es wäre vielleicht den Versuch wert, die Bedingungen ihres Glücks ein Stück weit sichtbarer zu machen. Um darüber das Unglück vieler Anderer nicht gänzlich zu vergessen.

Der identitäre Menschenapfel ist eine sehr zweideutige Travestie; er bekommt Macht, ihm wird durch Identitätserklärung und Echtheitszuschreibung eine neobiologistische Verfügungsgewalt über die Konsumenten eingeschrieben.

Kann Geschichte überhaupt Identität begründen?
Meines Erachtens nicht wirklich. Geschichte ist keine identitäre Veranstaltung. Was vor hundert Jahren geschah, hat mit unserer je gegenwärtigen Mühsal oder Erfolgsgeschichte nur sehr bedingt zu tun. Der Augenblick ist wichtiger als jegliche noch so heroische oder schlimme Vergangenheit. Die Gestaltung der Gegenwart ist ja immer Gestaltung sowohl von Vergangenheit, sobald der nächste Tag beginnt, und Gestaltung der Zukunft, noch ehe der nächste Tag beginnt. Sollte Geschichte Identitäten begründen, dann ist sie reine Legitimationswissenschaft, Herstellerin von Landesbewusstsein und Argumentationslieferantin für Tagespolitik. Das ist nicht ihre Aufgabe. Ihr Kern ist hingegen die Dekonstruktion, also die Analyse und Relativierung ideologischer Positionen.

Auf rechtskonservativer Seite wird der Schriftsteller Ezra Pound gerne als Fundament für rechtes Kulturttreiben in Italien herangezogen. Benötigt kulturelle Identität Starpoeten à la Pound?
Kultur- und Politiktreiben, beide Ebenen sind hier aufs Engste verwoben. Ultrarechtes Denken hat sich immer schon gerne auf Säulenheilige, möglichst männlich, tot und Teil der Weltgeschichte, berufen, zumeist auf sehr irrationale und widersprüchliche Weise. Es ist natürlich der Versuch, die Schmuddelecke zu verlassen und offenkundige Legitimationsdefizite zu beheben. Filippo Tommaso Marinetti, Gabriele D'Annunzio, Louis-Ferdinand Céline werden seit Jahrzehnten in der rechten Szene entsprechend geplündert, da in ihren Werken, aber vor allem in ihrem politischen Engagement vielfältige Anknüpfungspunkte vorliegen. Ezra Pound ist hier sozusagen der höchste Geistesadel, den die „Faschisten des dritten Jahrtausends“ anstreben können. Man kann es ihnen kaum versagen, da der penetrante Elitarismus, Geniekult und Eklektizismus von Pound sowie seine echte Faschismusnähe einem solchen Unterfangen mächtig in die Hände spielen. Entgegen immer wieder zu beobachtenden Entlastungsversuchen – auch kürzlich bei einer Meraner Tagung – war Pound eindeutig ein Geistesfaschist. Seine militanten profaschistischen Radioreden in der Hochphase des Weltkrieges, seine rassistisch-antisemitischen Tiraden im faschistischen Halbwochenblatt „Il Popolo di Alessandria“, vor allem aber die beiden häufig unterdrückten, übrigens auf Italienisch geschriebenen Cantos 72 und 73 belegen das auf eindrückliche Weise. Natürlich geht Pound in diesem reaktionären Gedankengut nicht restlos auf, aber seine durch und durch ambivalente Modernität deckt sich bestens mit dem intellektuellen Anspruchshorizont neurechter Gruppierungen.

Sie haben auch über den echten Südtiroler Apfel gesprochen. Wie muss dieser aussehen?
Wenige Tage vor der Konferenz, inmitten der Vorbereitung auf mein Referat, sprang mir die Schlagzeile des hiesigen deutschsprachigen Leitmediums förmlich ins Auge. Höchst prominent war, versehen mit Apfelbild, vom „ersten echten Südtiroler“ die Rede, offensichtlich einer erfolgreichen Züchtungsinitiative. So sehr landwirtschaftliche Optimierungsstrategien zu begrüßen sind, so auffällig war bei solcher journalistischen Präsentation das Narrativ des Menschenapfels, um genauer zu sein, eines männlichen Apfels. Es ist ein deutliches Überschießen von Bedeutung, wenn Naturgeschichte in Menschheitsgeschichte überführt wird. Der identitäre Menschenapfel ist eine sehr zweideutige Travestie; er bekommt Macht, ihm wird durch Identitätserklärung und Echtheitszuschreibung eine neobiologistische Verfügungsgewalt über die Konsumenten eingeschrieben. Sein Beispiel illustriert aber auch den herrschenden Identitätsterror, da eine regionale Phylogenese gleichsam als anthropologische Ontogenese präsentiert wird. Angesichts dieser „Ontologisierung“ des Apfels fragt man sich ja fast schon: Welcher Sprachgruppe gehört dieser Kulturapfel an? Und was geschieht mit dem Fallobst?

Faschismus und Kommunismus können bzw. konnten die totalitären Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, niemals dauerhaft gewährleisten.

Wie beurteilen Sie als Historiker den aufkeimenden Geist identitärer Gruppen in Europa?
Vermutlich war dieser Geist nie verschwunden, sondern als Erbteil der menschlichen Gattung stets latent, aber verborgen zugegen. Francis Bacon hat hier bereits 1620 in seinem „Novum Organum scientiarum“ – einem Gründermanifest moderner Wissenschaft – die entscheidenden Begriffe in Vorschlag gebracht. Er spricht etwa von den „Idola tribus“, den Trugbildern des Stammes, als dem ständigen Selbstbetrug und dem ewig blinden Fleck menschlicher Gruppenbildung und Vergemeinschaftung. Im Grunde ist es eine sehr pessimistische Diagnose, und die heutigen Zeitläufe scheinen dieser vor 400 Jahren formulierten Einsicht nicht zu widersprechen. Identitäre Gruppierungen sind besonders fetisch- und mythenanfällig, das sie individueller Gewissensbildung und entautomatisiertem Denken und Wahrnehmen besonders wenig Raum bieten. Der Appell an die Masse verrät den Machtgestus, und die Sexyness extremem Gedankenguts – das gilt auch für linksextreme Verirrungen – beruht zum guten Teil auf diesem niemals einzulösenden Versprechen von Macht. Dies haben nur Diktaturen, linke und rechte Faschismen partiell, also für kurze Zeit geschafft, und sind zugleich regelmäßig mit fürchterlicher Humanbilanz gescheitert, wobei man stets betonen muss: notwendigerweise gescheitert. Denn Faschismus und Kommunismus können bzw. konnten die totalitären Voraussetzungen, auf denen sie beruhen, niemals dauerhaft gewährleisten.

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W. C. Karcher Gio, 11/22/2018 - 18:04

Das Schöne an der harten Wirklichkeit ist, dass solche Ideologie früher oder später unerbittlich daran zerbricht. Der Mann vertritt hier nicht nur einem übersteigerten Vulgärkonstruktivismus, sondern unterliegt auch einem Fehlverständnis der Idolenlehre Bacons: "Er spricht etwa von den 'Idola tribus', den Trugbildern des Stammes, als dem ständigen Selbstbetrug und dem ewig blinden Fleck menschlicher Gruppenbildung und Vergemeinschaftung." – Das ist falsch. Um "Gruppenbildung und Vergemeinschaftung" geht es Bacon mit seinen "Idols of the Tribe" überhaupt nicht.

Gio, 11/22/2018 - 18:04 Collegamento permanente