Politica | Erinnerungen

Walesas zehn Gebote

Laizistische zehn Gebote und mehr Mitbestimmung wünscht Nobelpreisträger Lech Walesa dem heutigen Europa. In Bozen teilte er Erinnerungen an dessen frühere Neuordnung.
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Foto: Stiftung Südtiroler Sparkasse

„Nobelpreisträger im Gespräch“ heißt eine Veranstaltungsreihe der Stiftung Sparkasse und Eurac Research, bei der am Montag Abend dieser Woche der Preisträger des Jahres 1983 auf dem Podium saß: Lech Walesa, einst als legendärer Führer der Solidarnosc-Bewegung in Polen einer der Protagonisten der friedlichen Revolution in Osteuropa und später für fünf Jahre demokratisch gewählter Präsident seines Landes. Der einstige Streikführer in der Danziger Werft strich im Gespräch mit Moderator Günther Colgona von Eurac Education aber auch wiederholt seinen Brotberuf Elektriker hervor – nicht nur bei scherzhaften Anspielungen, als das elektrische Equipment zur Simultanübersetzung in der Bozner Eurac zeitweise streikte. “Elektriker gibt es viele auf der Welt“, erklärte Lech Walesa, „doch einen Elektriker mit Nobelpreis wird man nicht mehr vergessen, damit habe ich mich unsterblich gemacht.“ 

Wie konkret er an Europas Geschichtsschreibung mitgewirkt hat, erzählte der Pole, der nie Fremdsprachen gelernt hat, dann in einem kurzweiligen Gespräch, in dem er immer wieder die Lacher auf seiner Seite hatte. Er sei auch schon als Junge ein „kleiner Führer“ gewesen, meinte er beim Rückblick auf seine Jugend in einem Polen, das sich nach den Erschütterungen des zweiten Weltkrieges von den internationalen Mächten verraten und Stalins Sowjetunion ausgeliefert gefühlt hätte. Doch bis in die Achtziger Jahre hinein seien alle Versuche des organisierten Widerstandes an der Übermacht und Einschüchterungstaktik der kommunistischen Machthaber gescheitert. Erst die Kür von Karol Józef Wojtyła zum ersten polnischen Papst im Jahr 1978 habe eine entscheidende Wende gebracht, erzählte Walesa. Denn Papst Johannes Paul II sei es gelungen, den Menschen die Angst zu nehmen und sie im Glauben zu stärken, dass sie die Welt verändern könnten. „Ich hatte 20 Jahre lang nach freiwilligen Kämpfern gesucht, die mich unterstützen, doch als dann ein Pole Papst wurde ist es mir gelungen, in einem Jahr zehn Millionen auf meine Seite zu bringen“, erzählte Walesa. 

Auch die Verleihung des Friedensnobelpreises habe seiner damals geschwächten Bewegung neuen Antrieb verliehen, um so schließlich maßgeblich zum Ende der kommunistischen Volksrepublik Polen sechs Jahre später beizutragen. Dass er als einfacher Arbeiter dem freien Polen schließlich auch noch als Präsident gedient hätte, sei alles andere als sein Wunsch gewesen, beteuerte Lech Walesa. „Ich kann Ihnen nur raten: Versuchen Sie niemals Präsident zu werden“, mahnte er sein Publikum. „Je höher du aufsteigst, desto untragbarer wird das Amt.“ Und doch sei seine fünfjährige Präsidentschaft damals die einzige Möglichkeit gewesen, den Kommunismus endgültig zu besiegen. Andernfalls wäre der vormalige kommunistische Ministerpräsident und Staatsratsvorsitzende Wojciech Jaruzelski Präsident geblieben – „und Jaruselksi hätte nie aktzeptiert, dass Polen Mitglied der Nato und  der EU wird.“ 

 

Heute kann sich der einstige Streik- und Gewerkschaftsführer damit rühmen, „50 Mal mehr Auszeichnungen erhalten zu haben“, als der einstige russische Staatschef Leonid Breschnew an seinen berühmten Jackenrevers heften hatte. Weit wichtiger ist dem „Mann der Hoffnung“ allerdings was aus diesem Erbe nun gemacht wird. „Unsere Generation gelang es die Trennung und Spaltung der Welt zu bezwingen“, sagt Walesa, „nun braucht es Menschen, die die Strukturen und Programme von heute revidieren.“ Von internationalen Organisationen wie dem UN-Sicherheitsrat oder der Nato, die „auf einer Realität aufbauen, die es heute nicht mehr gibt“ und den neuen Herausforderungen nicht gewappnet seien, bis hin zur ungleichen Verteilung des Reichtums in der Welt. „Brauchen wir eine neue Oktoberrevolution, wenn 10 Prozent der Menschen den Großteil des weltweiten Vermögens besitzen“, fragte er. Dabei denke er aber keineswegs an Enteignung oder alte kommunistische Rezepte. Doch der heutige Kapitalismus brauche ebenfalls dringend eine Reform. „Versuchen wir Lösungen zu finden, ein Wirtschaftssystem, das unserer heutigen Realität und ihren Herausforderungen entspricht“, fordert Lech Walesa.

Besonders Sorgen machen auch dem 74-Jährigen Demagogie und Populismus, die nicht nur in seiner Heimat oder in Ungarn, sondern in ganz Europa zur Gefahr für alles bisher Erreichte werden, meint der leidenschaftliche Verfechter eines vereinten Europas, das er am liebsten als großen Staat sehen würde. Angesicht der heutigen Herausforderungen sei die Zeit der Nationalismen definitiv vorbei, „viele Themen sind nur aus europäischer Perspektive zu lösen“, ist der Pole überzeugt. Dafür sei es aber auch notwendig, noch einmal gemeinsam das Fundament zu bestimmen, auf dem man sich weiterentwickeln wolle. 

Walesas Vision? Neue zehn Gebote, ein laizistischer Wertekatalog, in dem in einfacher und klarer Form die wichtigsten Rechte und Pflichten jedes europäischen Mitgliedslandes definiert werden. Auch mit der Auflage, dass ein Verstoß dagegen einen Ausschluss aus der Wertegemeinschaft mit sich bringe. Ein weiteres wichtiges Anliegen des polnischen Nobelpreisträgers ist der Dialog und vor allem das Zuhören:  „Schalten Sie ihre Mikros ein, suchen Sie den direkten Kontakt mit der Bevölkerung und hören Sie zu was das Volk und vor allem die Jugend zu sagen hat“, legt er allen heutigen Politikern ans Herz. Nur durch einen offenen Dialog und eine ehrliche Diskussion, nur durch mehr Mitgestaltung und das gemeinsame Ausverhandeln neuer Regeln könne das zunehmende Desinteresse an Politik gebremst werden, das gefährlich für Europas Demokratien sei. “Wenn wir miteinander sprechen, eröffnen sich neue Möglichkeiten“, glaubt Lech Walesa. „Andernfalls werden wir immer die falschen Regierungen haben.“