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Auch auf Koptisch, Maltesisch, Inuit

Am 1. Februar wird weltweit der Robinson Crusoe-Tag begangen. Ob Daniel Defoe seinem wahren Helden auch im wahren Leben begegnet ist?
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Foto: mare Verlag

Schon verdammt hart, auf einer einsamen Insel zu stranden, ohne es gelernt zu haben alle möglichen Dinge zu bauen und sie niemand zeigen zu können. Aber es lohnt sich doch. Vor allem, wenn man die elende Geschichte in mehr als 25 Wörtern zu Papier bringt. Das tat der bis dahin eher erfolglose Schriftsteller Daniel Defoe im hohen Alter von 59 Jahren. Mit Robinson Crusoe hatte der gebürtige Londoner endlich berufliches Fortune. Eingedenk der recht langsamen Kommunikationsmittel des frühen 18. Jahrhunderts lässt sich sogar die Formel bemühen, dass Defoe über Nacht berühmt wurde. 

Nur der 1. Februar 1710, der Tag, an dem Selkirk gefunden wurde, wird jedes Jahr weltweit als Robinson-Crusoe-Tag begangen. 

Bis dahin sah es nicht nur seine literarischen Ambitionen betreffend mau aus. Im Alter von 32 machte Defoe Bankrott. Das war allerdings noch nicht der Tiefpunkt seiner Karriere. Den durchlitt er in einem wenig moralischen Job: Defoe half zum Tode verurteilten Verbrechern, noch rasch ihre Memoiren zu verfassen. Nicht ganz selbstlos: An sein Geld kam der Ghostwriter, indem er die Miniautobiografien unmittelbar nach der Hinrichtung der Delinquenten diversen Verlagen anbot. Die griffen gerne zu. Reich werden konnte man mit solch wenig elaborierter Form von Leichenfledderei freilich nicht. 


Gewiss wäre Defoes Leben komplett anders verlaufen, hätte der Verfasser von Nekrologen nicht eines Tages selber die Geschichte eines Todgeweihten gelesen, der zudem sein Abenteuer glücklich  überlebte. Der schottische Matrose Alexander Selkirk und sein Aufenthalt auf einer entlegenen Insel im Südpazifik gaben das Vorbild für die Odyssee von Defoes Romanhelden Robinson Crusoe. 
 Am 1. Februar 1709 sichtete ein englisches Freibeuterschiff, unterwegs auf Kaperfahrt im Auftrag der britischen Krone und zu Lasten iberischer Handelsschiffe, auf der unbewohnten Insel Más a Tierra ein Feuer. Kapitän Woodes Rogers kam dies, 324 Seemeilen, rund 600 Kilometer, abseits der chilenischen Küste, nun ja, spanisch vor. Er sandte ein Erkundungsboot aus. "Wenig später", so Rogers in seinem Bericht, "kehrte unsere Jolle vom Land zurück. Sie führten eine Unmenge Krebse mit sich und dazu einen Mann, in Ziegenfell gekleidet, der wilder aussah als diejenigen, welche die Felle zuerst auf dem Leib hatten." 
Der Gestrandete hatte sein Schicksal weder einem Schiffsunglück noch sonst einem widrigen Zufall zu verdanken, dass er die letzten vier Jahre und vier Monate auf Más a Tierra verbracht hatte. Selkirk, geboren 1776 in Lower Largo in der schottischen Grafschaft Fife, auf der Edinburgh gegenüberliegenden Seite des Firth of Forth, war bereits früh zur See gefahren. Die meisten Quellen bezeichnen ihn als Matrosen, doch muss seine seemännische Karriere in einem höheren Rang geendet haben. Auch wurde er keineswegs als Gefangener auf dem kleinen, aber trinkwasserreichen und damit fruchtbaren Eiland ausgesetzt. 
Schon Kapitän Rogers erzählte von einer Reihe nautischer Instrumente, die neben Schiffswerkzeugen bei Selkirk gefunden wurden. Der Einsiedler hatte also sehr wohl den Bau eines Bootes in Erwägung gezogen. Einem unfreiwillig ausgesetzten Delinquenten hätte man weder Werkzeug noch Instrumente dagelassen. 

 

Die These vom nautisch beschlagenen Seemann unterstützt der Archäologe David Caldwell. Der Mitarbeiter des Scottish National Museum gehörte einem Team an, das auf Más a Tierra nach Überresten von Selkirks Aufenthalt grub. Letzte Zweifel beseitigte der Fund eines Stechzirkels: Mit diesem Hilfsmittel lassen sich auf Seekarten Abstände bemessen. Also müssen Selkirk auch letztere zur Verfügung gestanden haben – ein Zugeständnis, das man einem straffällig Gewordenen nie gemacht hätte. Selkirks eigene Darstellung, er habe sich nach einem Disput mit seinem Kapitän über die Fahrtüchtigkeit ihres Schiffs freiwillig auf der Insel aussetzen lassen, stimmt vermutlich. 
Ein Jahrzehnt darauf veröffentlichte Defoe seinen Roman, der das am häufigsten in fremde Sprachen übersetzte belletristische Werk werden sollte – bis Joanne Rowling mit Harry Potter neue Maßstäbe setzte. Ob Defoe seinem wahren Helden auch im wahren Leben begegnet ist? Belege dafür gibt es nicht. Zumindest ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Romanautor seine Informationen aus erster und nicht über Umwege aus zweiter oder dritter Hand erhalten hat. Zwar kehrte Selkirk nach seiner Rettung in seinen Heimatort Lower Largo zurück. Doch fand er sich in dem schottischen Kaff nicht mehr zurecht. Mit Sophia Bruce, einem 16-jährigen Mädchen, brannte er schließlich nach London durch. 
Es folgten wilde Jahre in Britanniens Metropole, geprägt von Suff, Leidenschaften, einer weiteren Ehe, weshalb er des Heiratschwindels angeklagt wurde, und einem Beinahe-Totschlag. Angesichts fortgesetzter Belästigung durch strafverfolgende Behörden zog Selkirk es vor, wieder zur See zu fahren. Er versuchte sich zunächst als  Pirat, dann als geläuterter Piratenjäger und starb am 13. Dezember 1721 auf einem Schiff vor der afrikanischen Westküste an Gelbfieber. 
Bald geriet Selkirk in Vergessenheit. Ganz anders Defoe und sein Roman: Sogar die abgelegene Insel im Südpazifik trägt nicht den Namen des Schiffbrüchigen, sondern den des Schriftstellers: Isla Robinsón Crusoe. Nur der 1. Februar 1710, der Tag, an dem Selkirk gefunden wurde, wird jedes Jahr weltweit als Robinson-Crusoe-Tag begangen. 
Reich geworden ist Defoe mit seinem Roman freilich nicht. Dazu hätte er älter als 71 werden oder für eine einigermaßen lukrative Vermarktung sorgen müssen. Leicht gesagt, wenn bereits zu Lebzeiten so viele Raubdrucke (zugegeben: sie waren länger als die eingangs dieses Beitrags präsentierte kürzeste Zusammenfassung des Robinson Crusoe ever), oft in verkürzter oder, schlimmer noch, verstümmelter Form (Reader’s Digest gab es damals noch nicht, es wurde längst nicht so elegant gerafft wie bei den US-Komprimierungsspezialisten) unterwegs waren. 

 

Nach Defoes Ableben ging die Reproduktion erst richtig los. Allein bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erschienen nicht weniger als 700 verschiedene Ausgaben von Robinson Crusoe, darunter Kinderbücher und reine Bildergeschichten ohne Text. Und natürlich internationale Editionen, manche sehr exotisch: Die Lebensbeichte des weltberühmten Insulaners wurde bereits vor über hundert Jahren in nicht ganz so gängige Sprachen wie Koptisch, Maltesisch und Inuit übersetzt. 
Die letzte vollständige Ausgabe auf Deutsch stammte bis vor kurzem aus dem Jahr 1973, übersetzt von Lore Krüger. Das Land, in dem sie erschien, gibt es nicht mehr, nur der Aufbau Verlag konnte sich aus den Trümmern der DDR gottseidank wieder erheben. Leider aber ist der Robinson Crusoe bei den ehemals Ostberlinern seit einiger Zeit vergriffen. 
Wie gut, dass der Hamburger mare-Verlag sich an eine komplette Neuübersetzung getraut hat. In seiner editorischen Notiz am Ende des Buchs weist der Übersetzer Rudolf Mast zu Recht auf die sprachliche Qualität von Defoes Text hin. Er ist so modern geschrieben, dass er bis heute ohne große Veränderungen publiziert werden kann. Schwieriger ist natürlich die Übertragung in eine fremde Sprache. Das ist Mast vorzüglich gelungen. 
So gut, dass selbst bei der x-ten Lektüre neue Aspekte auftauchen. Klar, Robinson Crusoe ist mindestens ebenso sehr Selbst- und Sinnsuche wie Abenteuerroman, und „der feine Humor, mit dem das Ganze unterlegt ist“ (Mast) vermag immer wieder zu überraschen. Wie überhaupt die dem gesamten Werk zugrunde liegende Ironie: Wem ist beim Lesen oder Wiederlesen aufgefallen, dass der Romanheld, dank seiner Initiative, Risikofreude und Abenteuerlust und trotz allem Lamentieren über das -zigfache Ausschlagen des väterlichen Rates, im Lande zu verweilen und sich redlich zu nähren, wirtschaftlich überaus erfolgreich war, weil er, ganz Kapitalist, unternehmerisch tätig war, Chancen erkannt, Trends verfolgt und Gelegenheiten aufgespürt hat: Robinson Crusoe war bis zu seinem Schiffbruch (anders als Defoe, der, von Gläubigern verfolgt, in einer ärmlichen Absteige das Zeitliche gesegnet hatte) ein reicher Mann. Und wäre noch viel reicher geworden, wäre er heil von jener Handelsfahrt zurückgekehrt, die auf der Insel endete.