Gesellschaft | Europatag

“Es braucht keinen starken Mann”

Sepp Kusstatscher hält viel von Europa – und gar nichts von Rassismus und Nationalismus. “Es braucht eine Republik Europa”, fordert der ehemalige EU-Parlamentarier.
Sepp Kusstatscher
Foto: commons.wikimedia.org/Alexander Wallnöfer

Am 9. Mai 1950 hielt Robert Schuman eine denkwürdige Rede. Die Erklärung des französischen Außenministers gilt als Anfang der heutigen Europäischen Union. Frieden und Einheit sollte das Bündnis einst verfeindeter Staaten dem alten Kontinent bescheren. Das wird Jahr für Jahr am Europatag am 9. Mai gefeiert – auch wenn heute dunkle Wolken über dem “einmaligen Friedensprojekt” hängen, wie es der ehemalige EU-Parlamentarier Sepp Kusstatscher nennt.

salto.bz: Herr Kusstatscher, gibt es für Sie etwas zu feiern?
Sepp Kusstatscher: Sehr wohl! Trotz aller Schwierigkeiten und aller berechtigter Kritik ist dieses Friedensprojekt Europa einfach großartig und einmalig in der Geschichte. Wenn wir das nicht einsehen wollen, laufen wir jenen nach, die Tag für Tag über die Medien Schrecken verbreiten. Vor lauter negativer Nachrichten wird das positive Grundanliegen allzu oft nicht gesehen. Daher scheint es mir wichtig, am 9. Mai an dieses Friedensprojekt Europa zu denken und unseren Beitrag dazu leisten, dass daraus ein Europa der Bürger wird.

Hier hakt es: Viele Menschen gehen immer mehr auf Abstand zu dem “Apparat Brüssel”.
Natürlich, das technokratisch, bürokratisch, materialistisch, neoliberal gestaltete Europa macht verdrießlich. Aber noch schlimmer ist die Antwort, die darauf angeboten wird: sich durch Rassismus abgrenzen, Nationalismen aufbauen. Und das aus Frust.

Wir brauchen kein System der starken Männer.

Wie erklären Sie sich den europaweit verbreiteten Unmut in der Bevölkerung und den wachsenden Zuspruch für populistische und europafeindliche Kräfte?
Mit dem Fall der Berliner Mauer hat der Kapitalismus über den Kommunismus gesiegt. Seither walzt der neoliberale Kapitalismus über alles hinweg. Dabei ist dieser Frust entstanden. Ständige Schreckens- und Negativmeldungen verängstigen die Menschen, sie suchen in einfachen, populistischen Lösungen Antworten. Dafür bieten sich die saloppen Sprüche der Rassisten, Nationalisten und Europagegner sehr gut an: einfache, handgestrickte Antworten für Leute, die nicht differenziert denken. Damit will ich ganz harsche Kritik an allen Medien und Menschen loswerden, die mit Negativmeldungen nur Angst schüren, auf die jetzt diese einfachen Antworten kommen.

Der neue französische Präsident wird als Hoffnungsträger für Europa bejubelt. Das linke Lager und Gewerkschaften werfen Emmanuel Macron vor, ein Vertreter ebenjenes Neoliberalismus zu sein, den Sie als einen Verursacher der Ängste und Unzufriedenheit nennen. Was halten Sie von Macron?
Das Ergebnis in Frankreich beschert mir Bauchweh. Aber es war eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Marine Le Pen war natürlich noch weniger wählbar. Die neoliberalen Umtriebe sind auch im Falle des Brexit sichtbar: Über Jahre habe ich selbst erlebt, wie die Briten als verlängerter Arm der Vereinigten Staaten den neoliberalen, kapitalistischen Geist in Europa vertreten haben. Sie haben sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, dass Europa sozialer und ökologischer wird. Ich habe öfters zu britischen Kollegen im EU-Parlament gesagt: Verlasst die EU!

Die nationalstaatliche Denke muss überwunden werden, wir brauchen eine Republik Europa!

Der Brexit ist jedoch nicht das Ergebnis des Wunsches nach einem sozialeren Europa, sondern zum Großteil den Populisten zu verdanken…
Ich wiederhole mich: Wenn man auf diesem neoliberalen Scherbenhaufen meint, mit Nationalismus und Egoismus eine Welt neu ordnen zu können – dann wird wirklich der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben. Die neoliberalen Ungerechtigkeiten sorgen dafür, dass die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter auseinandergeht. Das ist sehr kritikwürdig und wird von mir als Letzten verteidigt. Aber darauf mit Rassismus, Nationalismus und Egoismus reagieren, Zäune bauen, gegeneinander Kriege führen, aufrüsten – das kann doch nicht die Antwort sein!

Ihre Antwort?
Antworten, in welche Richtung es gehen soll, gibt es genug. Angefangen beim Laudato Sì von Papst Franziskus bis hin zu Jean Ziegler: mehr Demokratie, mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Transparenz und vor allem eine ökosoziale Politik, wo Gerechtigkeit vor allem Steuergerechtigkeit bedeutet. Die ist dringend notwendig. Jedes Jahr gibt es mehr Stinkreiche, während auf der anderen Seite die Verarmung zunimmt. Das ist ein Skandal.

Würde das im Umkehrschluss bedeuten: Weniger Macht für die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten?
Einer der Fehler des Konstrukts Europa sind die Nationalstaaten. Sie verhindern, dass es die Vereinigten Staaten Europas gibt. Das stärkste Organ der EU ist nicht das Parlament oder die Kommission, sondern der Rat, in dem die nationalen Regierungen vertreten sind. Ich habe mich immer über die österreichischen Kollegen geärgert, wenn sie über die europäische Verkehrspolitik geschimpft haben. Sämtliche Maßnahmen wurden nämlich stets mit den Österreichern abgestimmt und abgesegnet. Und daheim schimpfen sie dann auf Brüssel. Die nationalstaatliche Denke muss überwunden werden, wir brauchen eine Republik Europa! Mit einer eigenen, klaren Verfassung und keinem 400 Seiten langen Verfassungsvertrag und ohne bürokratisches Konglomerat.

Solidarität lautet die Losung der Stunde.

Manche Staaten wollen, andere können die europäische Integration nicht voll mitmachen. Was halten Sie von einem “Europa der zwei Geschwindigkeiten”?
Gar nichts. In den 70er und 80er Jahren wurde Europa oft mit zwei Aufzügen in einem Hochhaus verglichen: Die Staaten, die weiter “vorne”, wirtschaftlich besser gestellt sind, sollen langsamer fahren, die schwächeren schneller. Damit früher oder später eine europäische Gemeinschaft entsteht. Also das Gegenteil von dem, was jetzt vorgeschlagen wird. Damit würden die Reichen nämlich davon schwimmen und müssten sich nicht darum scheren, wie den Schwächeren geht. Das ist die falsche Lösung.

Könnte eine “Koalition der Willigen” nicht zumindest ein Ansatz sein, um die offensichtlichen Probleme, die die ständige Uneinigkeit mit sich bringt, zu lösen?
Das Einstimmigkeitsprinzip sorgt im Grunde dafür, dass nichts weiter geht und die Leute frustriert und unzufrieden werden. Vor allem im Rat wird häufig die Einstimmigkeit gefordert, dabei könnten Beschlüsse auch mit qualifizierten Mehrheiten getroffen werden. Solidarität lautet die Losung der Stunde. Wir müssen solidarisch zusammen stehen.

Hier versagt Europa, wie nicht zuletzt die schleppende Verteilung von Flüchtlingen zeigt.
Die Aufnahme von Flüchtlingen sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Wobei ich den Satz loswerden muss, dass insbesondere jene Länder Flüchtlinge aufnehmen sollten, die Waffen produzieren und exportieren. Damit haben sie die Misere in Syrien und in vielen Teilen Afrikas mit verursacht. Diese Länder müssen auch die Folgen tragen, sich solidarisch zeigen und Menschen auf der Flucht aufnehmen.

Wie können Sie Solidarität verlangen wenn der Wohlstand, den Europa verspricht, längst nicht allen zugute kommt?
Ich verstehe, dass sich viele, die jeden Tag ums Überleben kämpfen gar nicht mehr trauen, an ein solidarisches, demokratisches Europa zu denken, zu Wutbürgern werden und Populisten nachlaufen. Nicht zufällig hat Trump in Amerika gewonnen. Aber viele seiner Wähler sind die ersten Opfer der Versprechen, den Sozialstaat abzubauen und die Sanitätsreform von Obama zu Fall zu bringen. Hier muss man beinahe sarkastisch sagen: Die dümmsten Kälber wählen ihren Metzger selbst. Die Medien geben politischen, populistischen Metzgern und ihren kräftigen Sprüchen auch mehr Platz. Differenzierte Positionen sind natürlich komplizierter zu vermitteln. Aber einfache Antworten in einem komplexen System sind die falschen Antworten.

Meine Antworten: mehr Demokratie, mehr Rechtsstaatlichkeit, mehr Transparenz und eine ökosoziale Politik.

In vielen europäischen Städten geht die Bewegung “Pulse of Europe” Woche für Woche auf die Straße, um für Europa zu demonstrieren. Sind das Menschen, die von Europa profitieren?
Diejenigen, die sich für Europa einsetzen, gehören sicher – und hier mag die Kritik durchaus stimmen – zu den Privilegierten in Europa. Menschen, die noch Zeit haben, Zeitung zu lesen, sich auch einmal zurücklehnen, durchatmen, nachdenken können und sich die Frage stellen, wohin die Reise gehen soll.

Was antworten Sie jemandem, der Sie fragt: Was bringt mir die EU?
Die erste Antwort ist: Bitte denkt zurück, wie es uns davor ergangen ist. Denkt an die zwei Weltkriege, an die 70er, 80er Jahre, als man noch über Grenzen fuhr, an die verschiedenen Währungen… Aber scheinbar ist es so, wie Schopenhauer sagte: Wir sehen das Positive erst, wenn wir es nicht mehr haben. Jemand schätzt die Jugend erst, wenn er alt ist, die Gesundheit wenn er krank ist, die schöne Umwelt wenn sie zerstört ist. Und wahrscheinlich werden viele Europa erst schätzen lernen, sobald wir es zerschlagen haben. Dann werden wir draufkommen, was wir an Europa gehabt haben. Ein jeder von uns.

Ständige Schreckens- und Negativmeldungen verängstigen die Menschen, sie suchen in einfachen, populistischen Lösungen Antworten.

Sie gelten als Optimist. Haben Sie die Hoffnung auf ein neues Europa verloren?
Wenn ich sehe, was sich weltpolitisch zusammenbraut, werde ich beinahe depressiv. Aber ich hoffe natürlich, dass die Vernunft siegt. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Es gibt sie, die Menschen, die versuchen, die Welt anders zu deklinieren, den Lebensstil ändern. Aber wenn es mit der Schwarz-Weiß-Malerei und Ängste-Schürerei so weiter geht, werden wir möglicherweise erst umdenken, wenn die Katastrophe bereits da ist. Wie es so oft in der Geschichte der Fall war.

Wer sind für Sie Hoffnungsträger, um diese Katastrophe noch abzuwenden?
Der Neoliberalismus hat die Medien erobert, das Großkapital hat nicht nur die Politik in der Hand, sondern immer stärker auch Bildung und Forschung. Zur Zeit würde ich nicht auf einzelne Leute vertrauen. Wir müssen ein Umdenken von unten herauf einleiten.

Selbst Verantwortung übernehmen statt sie an einen starken Mann abgeben?
Genau. Ein großes Problem ist ja, dass oft zu viel an einem Menschen hängt. Wir brauchen kein System der starken Männer. Wir brauchen mehr Demokratie und unabhängige Medien.

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gorgias Di., 09.05.2017 - 14:57

Das Schengenabkommen sieht vor, dass man die Außengrenzen kontrollieren muss um die Innengrenzen abbauen zu können. Würde Sepp Kusstatscher sich dafür einsetzen, könnte man den Populisten und jene die Europa zerstören möchten, den Wind aus den Segeln nehmen.
Wer glaubt dass sich alle diese Menschen die nach Europa kommen sinnvoll integrieren lassen, der lebt in seinen Wunschvorstellungen. Sie kommen nicht weil sie Freiheit, Demokratie und Arbeit wollen, sondern weil sie glauben bei uns gäbe es das Schlaraffenland.

Di., 09.05.2017 - 14:57 Permalink