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„Ich bin ein glücklicher Mensch“

Als Ordinarius wird seiner Karriere nun eine akademische Krone aufgesetzt: Primar Armin Pycha über Formel 1 in der Medizin, eine alte Liebe und sein liebstes Hobby.

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Foto: Armin Pycha

Herr Pycha, in der Regel ist es Ihr Bruder Roger, der in den Medien als Primar für Psychiatrie zu Wort kommt. Sind Sie der publikumsscheuere Bruder oder gibt die Urologie weniger her als die Psychiatrie?
Armin Pycha: Offensichtlich bewegen Themen wie Suizid oder Depression die Leute mehr als Harnkontinenz oder das Prostatakarzinom.

Zwei Brüder, die beide im selben Betrieb als Primare arbeiten, sind nicht alltäglich. Gab es da schon Vorbilder in Ihrer Familie?
Nein, wir kommen aus einer traditionellen Kaminkehrerfamilie. Mein Großvater war schrecklich betrübt, als ich mich nach meinem Bruder Roger auch für Medizin entschieden hatte. Denn er hatte die Hoffnung, dass die Dynastie entweder mit Roger oder mir fortgesetzt würde. Als ich nach Gröden gefahren bin, um ihm zu sagen, dass auch ich Medizin studieren werde, hat er gemeint, das sei ein sehr trauriger Tag. Kaminkehrerei sei der schönste Beruf der Welt und es betrübe ihn zutiefst, dass keiner diese Schönheit sieht.

Doch für Sie war und ist Arzt sein der schönste Beruf der Welt?
Ich finde, dass ich einen ganz, ganz schönen Beruf habe. Und obwohl ich aus Versehen Urologe geworden bin,  finde ich es heute die schönste Art, den Arztberuf auszuüben. Wenn ich noch einmal studieren würde, würde ich mich ohne Zweifel wieder für die Urologie entscheiden.

Auch diese Schönheit wird sich vielleicht nicht für jeden erschließen. Worin besteht sie für Sie?
Vor allem in der unglaublichen Vielfalt, die dieses Fach bietet. Wir sind im Rahmen der Milchstraße Medizin, wenn man es so nennen will, ein eigener kleiner Kosmos. Wir können ganz viel an Diagnostik selber machen, wir können ganz viel an Therapie selber machen. Ein Chirurg braucht zum Beispiel einen Gastroenterologen, der ihm in den Darm hineinschaut. Wir schauen selber in die Blase und die Niere, und haben aber gleichzeitig die Möglichkeit chirurgisch tätig zu sein. 

Anlass für unser heutiges Gespräch ist ihre kürzlich erfolgte Berufung zum Ordinarius für Urologie an der Sigmund Freud Universität, einer Wiener Privat-Universität, die seit zwei Jahren auch eine Fakultät für Medizin mit 200 Plätzen hat. Ist Ihre künftige Tätigkeit als Universitätsprofessor und Institutsleiter tatsächlich der „Endpunkt einer unvergleichlichen akademischen Karriere“, wie es diese Woche in einer Aussendung des Sanitätsbetriebs hieß?
Der Endpunkt ist in dem Zusammenhang so zu verstehen, dass das Ordinariat das höchste ist, das man in der akademischen Medizin erreichen kann. Darüber gibt es nur mehr das Dekanat und das Rektorat, aber das hat dann nichts mehr mit tatsächlicher Medizin zu tun, sondern ist Verwaltungsarbeit.

Wie wichtig ist Ihnen persönlich diese Berufung?
Es kam unverhofft, und meistens machen Dinge, die unverhofft kommen, die größte Freude. Ich habe natürlich an einem Wettbewerb teilgenommen, aber nur weil ich dazu eingeladen wurde. In Eigeninitiative hätte ich das nie getan, denn ich hätte mir absolut keine Chancen ausgerechnet, von Bozen aus gegen Wiener oder internationale Konkurrenz bestehen zu können. Doch nun, da ich es doch getan habe, ist es natürlich ein großer Reiz. Ich habe schon im Rahmen des Wettbewerbs ein Lehrkonzept vorgelegt. Nun gilt es, einen Lehrkörper und ein Forschungskonzept aufzubauen und das Ganze umzusetzen.

Werden sie diese Aufgaben neben Ihrem Primariat ausüben?
Ja, und so bin ich jetzt zumindest nicht mehr in der Verlegenheit, was ich im Urlaub machen soll. Also eine Sorge weniger.

"Früher hat man Spitäler gebaut, um Leute zu heilen oder ihnen zu helfen. Heute bauen wir Spitäler, um gute Bilanzen zu haben."

Sie haben selbst in Wien studiert und dort auch Ihre Karriere begonnen. Hat Wien einen speziellen Platz in ihrem Leben, in Ihrem Herzen - und was bedeutet es Ihnen, dort nun lehren zu dürfen?
Wien hat in meinem Leben und in meinem Herzen einen besonderen Platz. Um es anders auszudrücken: Wenn wir nach Wien fahren, sagt mein jüngerer Sohn immer noch: Jetzt fahren wir wieder heim. Wien ist mir sehr, sehr ans Herz gewachsen. Ich glaube, ich habe in Wien meine glücklichsten Jahre verlebt, beruflich und auch privat mit der Phase der Familiengründung. Ich hatte nach dem Studium zwei Jahre in Südtirol gearbeitet und bin sehr frustriert von hier weggegangen, weil ich einfach das Gefühl hat, hier nicht richtig weiterzukommen. Und als ich dann nach Wien kam, habe ich eine ganz andere Welt kennengelernt.

Sie haben am AKH gearbeitet, dem Universitätsklinikum der Stadt Wien. Was genau war dort anders als in Bozen?
Ich bin einfach in eine andere Welt eingetreten, wo mit einem ganz hohen Enthusiasmus gearbeitet wurde. Man muss auch dazu sagen, dass wir damals bis zu 100 Stunden die Woche gearbeitet und bis zu 15 Nachdienste im Monat absolvierten. Doch das fühlte sich nicht als Belastung an, es war einfach infektiös. Dort war es plötzlich nicht so, dass man operieren durfte, man musste einfach operieren. Dort hat der Chef darauf Wert gelegt, dass man fachlich weiterkommt, sich fortbildet, dass man OP-Techniken dazulernt. Es gab so genannte Karrieregespräche, heute heißt das Mitarbeitergespräch, wo Jahr für Jahr festgelegt wurde, was man zu lernen hat – praktisch, theoretisch und auch welche wissenschaftliche Wegstrecke man in diesem Jahr zurückzulegen hat. Das heißt, plötzlich hat sich jemand dafür interessiert, dass es weitergeht. Und ich hatte das Glück Menschen zu finden, die mit Leib und Seele gelehrt haben, die komplexe Operationen Stich für Stich vermittelt haben. Ich habe aber auch genauso vermittelt bekommen, was Forschung bedeutet.

Was bedeutet sie?
Sich eines spezifischen Problems anzunehmen und es zur Meisterschaft zu bringen. Du bist einer von wenigen Leuten in dieser Welt, die ein ganz kleines Detail ganz genau kennen und Erklärungsmodelle dafür liefern, warum etwas schief läuft oder funktioniert, bzw. Lösungsmodelle erarbeiten. Und das fühlt sich ein wenig wie Formel 1 an.

Und warum lässt man die Formel 1 sausen und geht – wie Sie im Jahr 2000 – wieder nach Bozen zurück?  
Da haben mehrere Faktoren zusammengespielt. Also, eigentlich hatte ich überhaupt nicht auf dem Plan, wieder nach Südtirol zurück zu kommen. Als ich damals von Bozen weggegangen bin, hatte mein damaliger Chef zu mir gesagt: la porta dell’Alto Adige si chiuderà per sempre. Damals, also Ende der Achtziger Jahre, gab es auch eine wahre Ärzteschwemme hier wie im Rest Europas. Das heißt, wenn einer ging, warteten schon fünf andere auf seine Stelle. Ich war aber auch nicht mehr erpicht darauf zurück zu kehren, ich sah meine berufliche Zukunft damals eher in Österreich oder Deutschland, eventuell auch in England. Ende der Neunziger Jahre war ich gerade auf dem Sprung, für ein Jahr nach London zu gehen, ich hatte über das AKH bereits eine Stelle, eine Wohnung...

Doch dann kam Ihnen plötzlich ein Primariat in Bozen in die Quere...
Mein Chef am AKH hatte mich damals gewissermaßen gezwungen, mich für diese Stelle zu bewerben. Da ging es aber eher darum, als Klinik bei solchen Ausschreibungen präsent zu sein und es gab auch schon einen designierten Nachfolger des damaligen Primars Pisetta. Doch der trat die Stelle dann plötzlich doch nicht an und ich war Zweitgereihter. Dazu kam, dass meine Frau schon zwei Jahre zuvor mit den Kindern wieder nach Südtirol zurückgegangen war, weil sie sonst ihre Stelle hier endgültig verloren hätte. Sie meinte damals: Jetzt komm halt herein und wir probieren es einfach. Und so ließ ich London sausen und bin zurückgekommen.

In gewissen Sinn kehren Sie nun aber zumindest mit einem Standbein wieder zurück nach Wien. 
Dazu gibt es noch eine Anekdote. Mein damaliger Chef am AKH, also jener Mann, der mich gezwungen hat, mich in Bozen zu bewerben, wollte mich dann absolut nicht gehen lassen, als ich mich tatsächlich für die Stelle entschieden hatte. Um mich zum Bleiben zu überzeugen, hatte er mir sogar ein Ordinariat versprochen. Sie haben das Zeug zum Ordinarius, ich mache Sie zum Ordinarius, hatte er damals gesagt. Als ich mich auch davon nicht umstimmen ließ, meinte er: Dann muss ich akzeptieren, dass Sie ein Loser sind und nach Bozen gehen. Ich muss sagen, dann fiel auf unsere Beziehung für ein, zwei Jahre ein gewisser Schatten, weil er mir anfangs einfach nicht verzeihen wollte, dass ich unter Anführungszeichen nur Primar werde und somit seine Investitionen in mich vergeude.

Weiß er, dass Sie nun doch Ordinarius werden?
Ja, und er hat es natürlich als Bestätigung gedeutet, dass er damals doch  recht hatte.

Statt unter einer Ärzteschwemme leidet die Sanität heute unter einem akuten Ärztemangel. Können Sie es nachvollziehen, wenn junge Ärztinnen oder Ärzte nicht mehr nach Südtirol zurückkehren wie Sie es letztendlich getan haben? 
Natürlich. Erstens haben wir ein schlechtes Betriebsklima hier. Der Umgang mit den Mitarbeitern lässt im Sanitätsbetrieb zu wünschen übrig, da brauchen wir nur die Töne anschauen, die von manchen Missionaren angeschlagen werden. Zweitens können wir einem Studienabgänger keinen Ausbildungsvertrag geben. Zu mir kommen Leute und fragen mich, ob ich Ihnen die Ausbildung garantiere. Ich kann jedem versprechen, dass ich mich persönlich dafür einsetzen werde, aber garantieren können wir nur Jahresverträge. Und wenn die selben Studienabgänger dann zum Beispiel nach Feldkirch gehen, bekommen sie zur Antwort: Selbstverständlich bekommen sie einen sechsjährigen Ausbildungsvertrag.

Und das spüren wir in Südtirol zunehmend?
Natürlich, es gehen immer mehr reifere Ärzte in Pension und es rückt kein Nachwuchs nach. Für jemanden, der in eine Ausbildung geht, ist Südtirol zur Zeit unattraktiv. Denn wenn morgen ein Facharzt mit Zweisprachigkeitsnachweis kommt, ist die Stelle weg, wie auch bei uns schon passiert. Angesichts des Ärztemangels können sich die jungen Leute heute die Stellen aussuchen. Und dann gehen sie eben dorthin, wo sie gut und freundlich behandelt werden und dazu auch noch die vertragliche Sicherheit haben, ihre Ausbildung abschließen zu können.

Hat die Landespolitik hier geschlafen, oder ist das Ausbildungsdilemma nur Schuld von Rom und der Regelung, dass es keine anerkannten Ausbildungsstätten jenseits von Universitäten geben darf?
Lassen wir die Politik doch bitte einfach draußen. Dass Versäumnisse da sind, ist klar, und dass das Klima so ist, wie es ist, ebenso. Zum Teil sind wir selbst schuld, zum Teil sind es einfach sehr dümmliche gesetzliche Rahmenbedingungen, die es für junge Leute so unattraktiv machen, hier zurückzukommen.

"Sie können mir glauben, dass es einen tief trifft, wenn man eventuell selber zum negativen Verlauf einer Krankheit beiträgt – indem man etwas zu spät findet oder vielleicht nicht richtig therapiert hat. Das ist für mich zumindest heute immer noch sehr belastend."

Ist es Ihnen als Primar dennoch ein Anliegen, junge Menschen auszubilden und ihre Mitarbeiter zu fördern?
Absolut. Ich erlebe immer wieder, wie schön es sein kann, wenn ein junger Mensch an Fertigkeit und Kompetenz dazugewinnt. Ich würde es unter dem Namen „reifen“ subsumieren. Es ist so, wie wenn ein Rohdiamant geschliffen wird. Irgendwo ist es im wahrsten Sinne des Wortes eine Schleiferei. Man wird wertvoller, aber man wird auch selber geschliffen.

Inwiefern?
Lernen impliziert auch ein hohes Maß an Demut. Ich muss bereit sein anzunehmen, dass mir jemand sagt, wie ich Dinge zu machen bzw. nicht zu machen habe. Ein junger Mediziner bringt in der Regel sehr viel Enthusiasmus mit, er bietet Einsatz und dafür möchte er eine Ausbildung. Und dieses Gegengeschäft bin ich willens zu erfüllen. Weil ich es persönlich erfahren habe, was es heißt, es nicht zu bekommen, und dann die Gnade hatte, es doch noch zu erfahren. Und weil es mir wichtig ist, den Gedanken weiterzugeben, dass man Wissen teilen muss, dass es kein Geheimwissen geben darf. Man lernt etwas, und wenn man es kann, gibt man es weiter.

Eine Grundregel auf der Bozner Urologie?
Als ich im Jahr 2000 hierherkam, haben in einem Team von sechs Leuten zwei Ärzte fast alle Operationen gemacht, die anderen haben zugearbeitet. Ich habe dann gesagt: Ich möchte ein Team haben, in dem jeder den Standard beherrscht. Damit waren alle einverstanden. Doch dann ist etwas passiert: Kaum ging einer über den Jordan, also konnte es, war es ihm sehr recht, dass es der andere nicht konnte. In die Köpfe hinein zu bekommen, dass es ein Vorteil für mich ist, wenn die Kollegin oder der Kollege auch perfekt ausgebildet ist, das hat lange gedauert.

Hat das mit der doch recht hierarchischen Struktur im Medizinbetrieb zu tun?
Das ist eher das Thema Neid, der ist unter Ärzten überdurchschnittlich ausgeprägt. Natürlich haben wir auch eine hierarchische Organisation, aber die braucht es in einem gewissen Maß auch, um die eigentlich recht simple Vorgabe zu erfüllen, die wir haben: Patienten zu versorgen, zu heilen oder ihr Leid zu lindern. Denn ob es um die Abschaltung eines Beatmungsgeräts oder die richtige Therapie geht: Einer muss immer die Letztverantwortung tragen.

Urologe zu sein, heißt nicht zuletzt wegen vieler Krebserkrankungen auch, mit Leid und Tod umzugehen. Gibt es hier Richtlinien, gibt es Strategien, wie das möglichst gut gelingen kann?
Die Überbringung von schlechten Nachrichten wird zum Beispiel in der Ausbildung weder gelehrt noch trainiert. Ich glaube, da lernt man sehr viel in Analogismen. Man schaut zu, wie der Chef, wie andere Vorgesetzte das machen, und das, was beeindruckt, versucht man dann eben zu imitieren. Bei uns auf der Abteilung gibt es aber auch Regeln, zum Beispiel jene der absoluten Transparenz. Das heißt, der Patient und nur der Patient, sofern nicht anders von Gericht verfügt, hat das Anrecht auf die Diagnose, auf die volle Wahrheit, und die bekommt er bei uns. Es gibt immer wieder Angehörige, die kommen und sagen: Wenn es etwas Krebsartiges ist, dann sagen sie es nur uns, weil der Gatte oder Vater oder die Großmutter das nicht verkraften würde. Doch ich glaube, in den 16 Jahren, seit ich hier bin, haben wir nur drei Mal eine Ausnahme von dieser Regel gemacht. Ansonsten bekommen die Patienten die volle und umfassende Diagnose von uns mitgeteilt.

Wie sehr berührt Sie der Tod von Patientinnen und Patienten, ihre Begleitung im letzten Lebensabschnitt persönlich?
Man leidet schon mit. Dass jemand stirbt, ohne dass man tief bewegt ist, das gibt es bei mir heute noch nicht. Bei manchen geht es sehr nahe, bei manchen kann man eher diese professionelle Distanz halten. Ich muss sagen, dass es oft auch schön und intensiv sein kann, Menschen in der  Endphase ihres Lebens zu begleiten. Doch es ist natürlich auch sehr anstrengend und manchmal auch sehr frustrierend. Vor allem wenn man sieht, wie Leute zum Teil alleine gelassen werden, wie Angehörige abgeschoben werden.  Wir haben ganz schöne, aber auch sehr abstoßende Erlebnisse.

Sie lernen also auch viel über den Umgang unserer Gesellschaft mit Krankheit und Tod?  
Man lernt fortwährend, und besonders durch jede schmerzliche Erfahrung. Und Sie können mir glauben, dass es einen tief trifft, wenn man eventuell selber zum negativen Verlauf einer Krankheit beiträgt – indem man etwas zu spät findet oder vielleicht nicht richtig therapiert hat. Das ist für mich zumindest heute immer noch sehr belastend.

Und passiert aber trotzdem, auch mit vielen Jahren Erfahrung?
Wer macht, macht auch was falsch. Das ist einfach so. Ein typisches Beispiel: Ein Mann kommt jahrelang zur Vorsorgeuntersuchung gegen Prostatakrebs und das Ganze schaut nach einer gutartigen Vergrößerung aus. Irgendwann entschließt man sich doch zur Biopsie und es kommt Krebs heraus. Und dann kommt unweigerlich die Frage: Wie lange habe ich den schon? Da kann man nur wahrheitsgemäß sagen: seit Jahren. Dann geht man in sich und fragt sich: Wie konnte das passieren, was habe ich nicht richtig gedeutet, welchen Hinweis habe ich übersehen? Krebs macht am Anfang auch keine Symptome. Wenn sie auftreten, ist er meist schon fortgeschritten oder es ist schon zu spät. Es gibt schon Momente, wo ich es – rüde ausgedrückt – satt habe und mir sage: Im nächsten Leben werde ich Friseur. Die Haare wachsen relativ schnell wieder nach, da kann man Fehler wieder gutmachen.

Und wie versuchen Sie sie, in Ihrem Beruf wieder gut zu machen?
Wir versuchen Sie vor allem, so weit es geht zu vermeiden. Ich habe bereits im Jahr 2000 Checklisten eingeführt, damals wurde ich noch belächelt, 2009 wurden sie dann gesetzlich vorgeschrieben. Seit damals haben wir aber auch eine Mappe mit dem Titel „It wasn’t me“. Der Grundgedanke dahinter ist: Selbst ein Misserfolg kann erfolgreich sein, wenn ich daraus Lehren ziehe – und wenn ich die Größe habe, Fehler mit anderen zuteilen. Deshalb zeichnen wir sämtliche auftretenden Komplikation auf, um sie dann in regelmäßigen Sitzungen zu besprechen. Da wird dann analysiert, warum das passiert ist und wo der Fehler gemacht wurde. Wenn man Fehler teilt, heißt das, dass andere mit weniger eigenen Fehlern besser werden können. Wir nennen das Fehlerkultur. 2008 wurde ich übrigens noch aufgefordert, das unterbleiben zu lassen, weil es nur böses Blut schaffe. Heute nennt man das hier Qualitätsmanagement.

Dennoch mussten Sie sich als Primar in ihren ersten Bozner Jahren wegen vorsätzlicher Tötung vor Gericht verantworten.
Ja, mir wurde in anonymen Anzeigen unterstellt, Patienten im Terminalstadium nicht bis zum Schluss austherapiert zu haben, sondern das, was heute unter Palliativmedizin verstanden wird, eingeleitet zu haben. Es kam damals in 14 Fällen zu einer gerichtlichen Voruntersuchung, übrig blieben letztendlich zwei. Aber auch für diese haben Gutachter bestätigt, dass kein Fehlverhalten vorlag, sondern es sogar richtig war, in diesen hoffnungslosen Fällen statt überzogene Therapien durchzuführen auf einen qualitativen Tod hinzuarbeiten. Also, dass jemand ohne Schmerzen und in Ruhe einschlafen kann, das, was wir heute als würdevollen Tod bezeichnen.

Damals standen Sie aber kurz davor, in Bozen wieder das Handtuch zu schmeißen?
Klar, schließlich gingen die Anzeigen von einigen meiner eigenen Mitarbeiter aus. Damals hatte ich schon das Gefühl: Man zeigt, teilt sein Wissen, versucht die Leute auf Vordermann zu bringen, und genau das geht dann in die Hose.

War das also Widerstand gegen die neue Kultur?
Ganz sicher, die wollten einfach, das alles so bleibt, wie es war. Sie müssen sich vorstellen: Als ich hierherkam, konnten mir keiner sagen, wann die Arbeitszeit beginnt. Es hat geheißen: der erste kommt um 8 und der letzte um 10.30 Uhr. Wenn Sie eine Mannschaft haben, wo nicht einmal der Arbeitsbeginn klar ist, kann man nur von anarchischen Verhältnissen sprechen.

"Ich hätte mir absolut keine Chancen ausgerechnet, von Bozen aus gegen Wiener oder internationale Konkurrenz bestehen zu können. Doch nun, da ich es doch getan habe, ist es natürlich ein großer Reiz."

Muss man als Arzt immer mehr Angst haben, Entscheidungen zu treffen, weil die Bereitschaft zu klagen steigt?
Ja. Die Gesetzeslage ist schwierig, die Patienten werden fordernder. Man hat heute fast den Anspruch, dass man einen Menschen wie einen Motor richten soll. Den Anspruch auf vollständige Wiederherstellung. Aber man muss auf der anderen Seite einräumen, dass eben auch Fehler passieren. Wir haben dabei die besten Erfahrungen gemacht, in solchen Fällen offen auf Patienten zuzugehen und zu sagen: Das und das ist passiert. Wir sind Ihnen behilflich, eine Wiedergutmachung zu bekommen. In solchen Fällen, also wo wirklich etwas passiert ist, hatten wir immer am wenigsten Schwierigkeiten. Dort wo Leute wirklich Anspruch auf Schadenersatz gehabt hätten, haben sie meist freiwillig darauf verzichtet.

Wie sehr fühlen Sie sich in der Frage von kostenintensiven Therapien alleingelassen. Es gab da in der Vergangenheit nicht nur sehr umstrittene Prothesen-Sager. Ihr Bozner Primakollege Klaus Eisendle hat auf salto.bz auch in Hinsicht auf die hohen Medikamentenkosten für Tumorpatienten eine Diskussion darüber gefordert, ob man man 50.000 Euro zahlen soll, um jemanden das Leben für drei Monate zu verlängern. Was ist Ihre Antwort?
Die Frage ist, welche Dimension das hat. Die Aussagen, dass man ab 75 Jahren keine teure Prothese mehr bekommen soll oder die Patienten frühzeitig in die Palliation bringt, sind nicht nur unglücklich, sondern die sind dumm. So kann man dieses Problem nicht lösen. Denn wir wissen alle, dass es Menschen gibt, die mit 75 Jahren kaputt sind und andere sind noch mit 90 super beisammen. Ich kann nicht alles kalendarisch abhandeln, nicht alles mit einer Summenformel bereinigen. Ich glaube, es braucht hier individuelle Lösungen. Wir Ärzte sind als erste angehalten, eine sinnvolle Medizin zu machen. Das heißt, wir müssen auch Ressourcen  sinnvoll nutzen und einsetzen, und das haben wir verabsäumt. Und so  schreiben uns heute artfremde Leute vor, was sinnvoll ist. Doch wenn zum Beispiel Obergrenzen von durchzuführenden Operationen eingeführt werden, dann ist das nicht nur unzeitgemäß, sondern dann geht es darum, die Medizin kaputt machen.

Oder die galoppierenden Kosten in den Griff zu bekommen?
Verstehen sie mich nicht falsch: Sparen ist wichtig, Ressourcen verantwortungsbewusst einsetzen, ist richtig, optimieren ist richtig. Doch nur die Bilanz im Vordergrund zu sehen, ist komplett falsch. Früher hat man Spitäler gebaut, um Leute zu heilen oder ihnen zu helfen. Heute bauen wir Spitäler, um gute Bilanzen zu haben. Da geht irgendwo in der Entwicklung etwas schief.

Spricht jetzt der ehemalige Vorsitzende der Primargewerkschaft ANPO?
Das Problem ist, dass es einfach keine Zusammenarbeit mit Entscheidungsträgern gibt, der Arzt wird nach wie vor nicht gehört. Aber das ist im Ausland dasselbe. Das ist kein Problem unsere Sanitätsbetriebs, das ist Zeitgeist. Und so bestimmen überall im Gesundheitswesen Manager, wie was wann gemacht wird. Denn wir haben es zumindest fast überall in der westlichen Welt verabsäumt, es als Ärzte selbst in die Hand zu nehmen. Weil wir das nicht tun wollten. Und jetzt sind wir fremdbestimmt und dann kommt das große Gezeter.

Kann man als Primar seine Abteilung dennoch weitegehend selber gestalten?
Innerhalb der Abteilung kann man vieles selber gestalten, manches nicht mehr, und der Spielraum wird immer enger.

Sie bestimmen aber zum Beispiel auch, keinen Privatpatienten zu behandeln. Wer zu Ihnen kommt, zahlt auch für die Visite beim Primar immer nur 16 Euro. Ein Prinzip?
Ich glaube, dass die private Tätigkeit, wie sie derzeit bei uns aufgezogen wird, falsch ist. Dafür bräuchte man wenn schon ein anderes Modell. Und  da ich dieser Meinung bin, mache ich es einfach nicht, das ist mein Privileg. Ich behandle alle gleich, und so kann mir auch keiner den Vorwurf machen, dass ich etwas des Geldes wegen mache.

Wenn man einen Job wie den Ihren mit so viel Leidenschaft ausübt – wie viel Leben bleibt da überhaupt noch außerhalb des Berufs, für die berühmte Work-Life-Balance?
Wissen Sie, mir gefällt meine Arbeit. Was schon schwer an mir nagt, ist dass meine mittlerweile erwachsenen Kinder zu kurz gekommen sind, vor allem in der Zeit in Wien. Doch prinzipiell bin ich einfach ein glücklicher Mensch, weil ich dafür bezahlt werde, was ich gerne mache. Ich bin zum Beispiel privat auch künstlerisch tätig und schnitze Holzfiguren. Doch ob ich zu Hause eine Figur schnitze oder hier eine neue Blase bastle, ist im Grund die gleiche Handarbeit. Die Administration mache ich weniger gerne, das ist schwer verdientes Geld für mich. Aber die Arbeit mit den Patienten macht mir ungeheure Freude. Und wer kriegt schon für sein Hobby gezahlt?

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Max Benedikter So., 15.01.2017 - 13:01

Ich bin immer wieder positiv beeindruckt, wenn ich in der Urologie Bozen arbeite. Am besten gefiel mir, wenn Prof. Pycha Gastchirurgen zu sich ins Bozner Kh einlud und somit das gesamte Team davon profitieren lies. Effizient und logisch, aber einzigartig.

So., 15.01.2017 - 13:01 Permalink
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luigi spagnolli Mo., 16.01.2017 - 10:23

Brava Susanne Pitro, ben scritto! In ambito sanitario lavorano persone straordinarie, di cui non si parla mai perché le cose che non funzionano, e le tabelle delle spese, fanno più notizia di loro. Armin Pycha è un cervello che è stato in fuga e che è tornato, ha fatto e fa bene. Come tanti altri medici e non medici più o meno sconosciuti nel nostro sistema sanitario. Danke Armin, danke Herr Ordinarius, weiter so!

Mo., 16.01.2017 - 10:23 Permalink
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Bernd Karner Mo., 16.01.2017 - 12:17

Herzlichen Glückwunsch Herr Prof. Pycha zu Ihrem akademischen Erfolg! Das Interview ist sehr interessant und aufschlussreich auch im Sinne der Entwicklung eines erfolgreichen ärztlichen Wissensmanagements in unseren Krankenhäusern. Danke und danke auch der Redakteurin.

Mo., 16.01.2017 - 12:17 Permalink
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Toni Ladurner Mo., 16.01.2017 - 16:29

Danke für diesen sehr aufschlussreichen Beitrag! Er bestätigt, was ich bereits als Patient mit Dr. Pycha und seinem Team erfahren habe: hohe fachliche Kompetenz, gute Kommunikation, perfekte Organisation und der Mensch steht im Vordergrund.

Mo., 16.01.2017 - 16:29 Permalink
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EDITH HOLZNER Di., 31.01.2017 - 14:38

Herzlichen Glückwunsch zu Deinem akademischen Erfolg. Ein sehr interessanter Beitrag. Dr. Pycha kämpft mit Freude und Begeisterung für seine Patienten, und seine Mitarbeiter. Wünsche Ihm noch viele gesunde Jahre mit diesem Einsatz.
DANKE ARMIN

Di., 31.01.2017 - 14:38 Permalink