Gesellschaft | Interview

“Sterzing wird immer als Opfer hingestellt”

Für die pensionierte Kinderärztin Gertrud Zanon-Wahlmüller gibt es gute Gründe für das Aus der Geburtenstation Sterzing. Sie vermisst vor allem eines: Sachlichkeit.

Stimmen wie jene von Gertrud Zanon-Wahlmüller sind in letzter Zeit kaum zu hören gewesen. Die pensionierte Brixner Kinderärztin hat das jahrelange Hin und Her um die Geburtenstationen aufmerksam verfolgt. Und ist zum Schluss gekommen: Die Entscheidung der Landesregierung, jene in Sterzing mit Ende Oktober zu schließen, war richtig.

salto.bz: Frau Zanon-Wahlmüller, mit welchen Eindrücken haben Sie die jüngst neu aufgeflammte Debatte um die Schließung der Geburtenstation in Sterzing verfolgt?
Gertrud Zanon-Wahlmüller: Die Diskussion läuft ja schon seit bald zwei Jahren. Bisher hat es allerdings keine Möglichkeit gegeben, sie auf eine sachliche Ebene herunterzubrechen. Vor allem Sterzing geht auf sachliche Argumente überhaupt nicht ein.

Wen meinen Sie mit “Sterzing”?
Das Krankenhaus selbst, aber auch die Bevölkerung. Eine sachliche Diskussion war bisher überhaupt nicht möglich. Es ist eine rein emotionale Debatte. Sterzing stellt sich auf den Standpunkt, die Abteilung funktioniere perfekt, sei wunderschön und lebensnotwendig für das Wipptal.

Es ist nicht einzusehen, dass Südtirol für den oberitalienischen Raum eine “Klinik für schöne Geburtserlebnisse” schaffen muss.

Dem ist aber nicht so, sagen Sie?
Schauen wir einmal die andere Seite an. Dort wird mit Ressourcen, die zur Verfügung stehen, argumentiert – personeller wie finanzieller Art. Aber darauf wird dann nicht eingegangen, sondern Sterzing wird immer als Opfer hingestellt.

Immerhin sind vergangenen Donnerstag über 3.000 Menschen auf die Straße gegangen. Solidaritätsbekundungen gehen aus dem ganzen Land und dem restlichen Italien ein…
Die Bevölkerung wird nun schon seit zwei Jahren aufgewiegelt und es ist jetzt natürlich leicht, in Bezug auf die Geburtenabteilung zu sagen: “Das wollen wir haben!” Wer will schon nicht haben? Wir sind ja sowieso inzwischen zu einer Haben-Gesellschaft geworden. Und keine Abteilung macht solche Propaganda über die sozialen Medien wie es in Sterzing der Fall ist. “Un’eccellenza non solo in Alto Adige, ma in tutta Italia”, “Quando tutta l’Italia è sotto choc perché vogliono chiudere un modello di reparto di ostetricia”. Wenn solche Slogans durch die Medien gehen und man bedenkt, dass sogar mit dem schönen Blick auf die Berge für Sterzing geworben wird – klar gefällt das den Leuten. Da ist es kein Problem, so viele Menschen für einen Protest zusammen zu bekommen.

Ich weiß, dass jetzt ein Shitstorm losbrechen wird, aber die Tatsachen liegen seit längerem offen.

Für Sie sind die Argumente für die Schließung der Sterzinger Geburtenstation nachvollziehbar?
Es geht um zwei Aspekte: vorrangig die Sicherheit und darüberhinaus die Ökonomie beziehungsweise Rationalität. Und bei der Sicherheit ist Sterzing extrem allergisch. Die Argumente, auch wenn sie die Landesregierung sehr zögerlich und vorsichtig vorgebracht hat, sind für mich nachvollziehbar, ja. Es geht letzten Endes wirklich um Quantität und Qualität…

…die in Sterzing gewährleistet sein dürfte, wenn man den Aussagen von Krankenhausleiter, Hebammen und Lokalpolitikern glauben darf.
Man muss überlegen: Sterzing ist für die Versorgung der Wipptaler Bevölkerung zuständig. In den letzten Jahren hat der Bezirk Wipptal durchschnittlich 220 Geburten im Jahr verzeichnet, 2015 waren es 204 Geburten. Davon sind 153 Kinder in Sterzing geboren. Und für diese Kinder ist Sterzing zuständig. Teilt man diese Zahl durch 365 Tage, kommt man auf 0,42 Geburten pro Tag. Zum Vergleich: Wenn man die vorgesehene Zahl von 500 Geburten im Jahr hernimmt, dann ergibt sich ein Durchschnitt von 1,37 Geburten am Tag.

Daraus könnte man nun ableiten, dass Sterzing aufgrund der niedrigeren Anzahl an Geburten tatsächlich ein hohes Maß an Qualität bieten kann?
Natürlich ist das schön. Aus diesen Zahlen ergibt sich auch der Vorteil von Sterzing. Es fragt sich aber, ob der Personalaufwand dann auch gerechtfertigt ist. Aus Sicherheitsgründen wäre er das auf jeden Fall. Fakt ist allerdings, dass Noteingriffe in Kleinabteilungen oft nicht zeitgerecht erfolgen können.

Wie oft sind solche Noteingriffe im Allgemeinen notwendig?
Es geht um wirklich nicht viele Kinder. Von 100 Neugeborenen haben zehn Prozent kurzfristig einen Arzt nötig. Von diesen zehn Prozent sind wiederum zwei bis vier Prozent – also unterm Strich zwei bis vier Promille – wirklich gefährdet. Es geht also nur um diese wenigen. Und darum, diese Kinder rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln, um langfristige Schäden zu verhindern.

Wissen Sie, wie sich die Zahlen in den vergangenen Jahren bezüglich der Problemfälle unter Neugeborenen an den kleinen Krankenhäusern entwickelt haben?
Die Antworten auf diese Frage sind alle schon da. Unter anderem gehen sie aus der Antwort auf eine Landtagsanfrage der Süd-Tiroler Freiheit hervor*. Im Frühjahr war Dr. Hubert Messner (Primar der Neonatologie-Abteilung und der Neugeborenen-Intensivstation am Bozner Krankenhaus und aktuell Mitglied des technischen Komitees für die Betreuung rund um die Geburt, Anm. d. Red.) im Landtag. Dabei hat er über die Morbiditätsrate, also die Häufigkeit von Erkrankungen, bei Neugeborenen gesprochen. Und davon, dass diese Rate in den peripheren Krankenhäusern im Steigen begriffen ist. Die Zahlen liegen also vor.

*Das Amt für Gesundheit kommt darin zum Schluss, dass das Risiko von Totgeburten im Krankenhaus Sterzing im Vergleich zum Landesdurchschnitt um geschätzt 133 Prozent und jenes von Hirnschäden bei der Geburt um 110 Prozent höher ist.

Was braucht es um in Notfällen, so selten sie auch sein mögen, professionell einzugreifen?
In erster Linie gilt: Je besser das Team einer Geburtenstation eingespielt ist, umso besser wird das Outcome der Kinder sein. Dann braucht es eine gewisse Routine – man braucht diese seltenen Zwischenfälle einfach öfters, um sie eingeübt zu haben. Es geht dabei nicht darum, ob die Ärzte großer oder kleiner Abteilungen besser oder schlechter sind.

Worum geht es dann?
In kleinen Abteilungen gibt es erstens einfach weniger Notfälle. Zweitens sind die Ärzte heute zwar rund um die Uhr in Bereitschaft. Aber das Problem ist, dass ein Notfall in der Geburtshilfe die prompte Anwesenheit der Mediziner erfordert.  Natürlich steht in Sterzing das Personal zur Verfügung – dank Werkverträgen und Ärzten, die zum Teil aus Österreich, zum Teil aus anderen italienischen Provinzen kommen. Das können auch Koryphäen sein – aber im Notfall ist die Zusammenarbeit dieser Professionisten relevant. Und das muss ineinander gehen wie Zahnräder.

Fakt ist, dass Noteingriffe in Kleinabteilungen oft nicht zeitgerecht erfolgen können.

Die Anwesenheit der Spezialisten soll ja laut dem 2010 zwischen Staat und Regionen vereinbarten 24-Stunden-Aktivdienst von vier Fachkräften künftig gewährleistet werden. Wo ist das Problem für Südtirol?
Mit der Forderung der dauernden Anwesenheit einer Hebamme, eines Gynäkologen, eines Anästhesisten und eines Pädiaters in allen Krankenhäusern ist Südtirol personell und finanziell sehr stark gefordert.

Ist die Schuld in Rom zu suchen? Oder bei der Landesregierung, die nicht hart genug im Sinne Südtirols verhandelt hat?
Der 24-Stunden-Aktivdienst ist kein italienischer sondern ein europäischer Standard. Wir müssen irgendwann von dem Kirchturmdenken ablassen, dass es für uns immer Ausnahmen braucht. Es gibt erprobte Regelungen, die vielleicht auch in unserem Land anzuwenden sind.

Landesrätin Stocker hat dieses Assessorat mit der expliziten Aufgabe übernommen, eine längst fällige Sanitätsreform durchzuführen. Dass das schwierig wird, war klar. Denn bisher hat sich niemand drangetraut. Die Reform wurde bereits unter Stockers Vorgänger Richard Theiner angedacht, aber angegangen wurde sie nie.

Welche Erklärung haben Sie dafür, dass diese Argumente bislang keinen Platz in der breiten Debatte gefunden zu haben scheinen?
Die Antwort, die auf alle Argumente erfolgt, die sehr sachlich und zum Teil von namhaften Experten vorgebracht werden, ist Diffamierung. Es ist von Lügen die Rede und davon, dass der Abteilung bewusst Schaden zugefügt werden solle. Man will sich die Illusion des schönen, kleinen Krankenhauses einfach nicht nehmen lassen. Und wir dürfen nicht vergessen: Sterzing war immer privilegiert – eine kuschelige, überschaubare Abteilung mit Platz und Möglichkeiten, von denen andere Abteilungen nur träumen. Bei dieser Geburtenzahl pro Tag gibt es natürlich auch kaum ein Zeitproblem bei der Betreuung.

…die auch viele Frauen von außerhalb der Provinz gern in Anspruch nehmen…
Noch einmal: Es geht um 150 bis 200 Geburten. Es ist nicht einzusehen, dass Südtirol für den oberitalienischen Raum eine “Klinik für schöne Geburtserlebnisse” schaffen muss.

Trotz all den Emotionen, die derzeit hochkochen – der Landeshauptmann geht davon aus, dass man in absehbarer Zeit zur “Sachlichkeit” zurückkehren wird. Ein schwieriges Unterfangen, zumal Sie ja bisher eine sachliche Diskussion vermissen?
Der einzige Fehler der Landesregierung war, dass man auf Druck der Bevölkerung und auch der Oppositionsparteien so lange gezögert hat. Hätte sie vor zwei Jahren ihr Konzept einfach durchgezogen, hätte es zwar auch für einige Zeit große Aufregung gegeben. Aber inzwischen hätten auch die Sterzinger gemerkt, dass ihr Krankenhaus weiter funktioniert, weiterlebt und andere Funktionen hat, die es bisher vielleicht nicht hatte.

Es hat bereits Rücktritte ganzer SVP-Ortsgruppen wie jener von Innerratschings gegeben. Bekommt die Landesregierung nun die Rechnung ihres Zögerns präsentiert?
Schauen Sie, früher war es innerhalb der Partei (SVP, Anm. d. Red.) so, dass man, wenn man etwas haben wollte, zum Landeshauptmann ging und es bekommen hat. Nun ist das einfach nicht mehr so. Und vielleicht stellen sich einige die Frage, warum sie überhaupt noch in der Partei sein sollten, wenn sie eh nicht bekommen, was sie wollen.

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Salto User
Günther Alois … Mo., 18.07.2016 - 07:27

Frau Dr.Gertrud Zanon Wahlmüller,sie haben mal ein Gelübde abgelegt,wenn sie das Doktorat abgeschlossen haben und zwar,dass sie sich für das WOHL und die Gesundheit der Pazienten einsetzten werden.?????
Man sollte Ihnen die Aprovation entziehen .Einfach nur zum SCHÄMEN!!!!!

Mo., 18.07.2016 - 07:27 Permalink
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Markus Lobis Mo., 18.07.2016 - 08:27

Vernünftig, sachlich, klug und nachvollziehbar dargestellt. Ein wichtiger Beitrag zur Versachlichung der Debatte, die in unserem Land zu selten auf qualifizierte Weise erfolgt. Die jämmerliche und höchst primitive Reaktion von Günther Alois R... auf diesen Seiten ist ein Hinweis darauf, woran unsere Gesellschaft tatsächlich krankt. Abgesehen von der Rechtschreibkompetenz...

Mo., 18.07.2016 - 08:27 Permalink
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Astrid Di Bella Mo., 18.07.2016 - 08:38

Zu den europäischen Standars gehören aber auch die NICE guidelines (https://www.nice.org.uk/guidance/cg190?unlid=287528985201621005121) die ganz klar hervorheben, dass Frauen mit geringem Risiko in einem hebammengeleiteten Kreissaal sicherer entbinden als in einem hochspezialisierten Zentrum. Denn in dieser jahrelangen Diskussion werden leider immer nur die Risikofaktoren einer schwierigen Geburt hervorgehoben, aber die Risikofaktiren einer zu hohen Medikalisierung (die genauso untersucht und bewiesen sind) von denen sprechen nur wenige. In den anderen europäischen Ländern gibt es auch andere Realitäten wie "nur" die großen Geburtskliniken (siehe Gebursthaus, Hebammenkreissäle in Krankenhäusern, Hausgeburten usw.) Da hinken wir (Südtirol und Italien) noch sehr nach. Und darum geht es unter anderem auch in der gesamten Diskussion rund um die Schließung in Sterzing. Es ist nicht korrekt, Strukturen zu schließen, bevor gute Alternativen (auch in den bestehenden Krankenhäusern) geschaffen werden. Ausserdem verstehe ich im obigen Artikel nicht, weiso bei der Risikoberechnung aufgrund der Fallzahlen nur die Geburten aus dem Wipptal berechnet werden. Fast so, als ob die anderen Frauen aus Südtirol und Italien anders entbinden würden. Sterzing hat knapp 500 Geburten und damit soll gerechnet werden und nicht mit 153.

Mo., 18.07.2016 - 08:38 Permalink
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pérvasion Mo., 18.07.2016 - 12:41

"Das Amt für Gesundheit kommt darin zum Schluss, dass das Risiko von Totgeburten im Krankenhaus Sterzing im Vergleich zum Landesdurchschnitt um geschätzt 133 Prozent und jenes von Hirnschäden bei der Geburt um 110 Prozent höher ist."
Wenn ich die Antwort auf die Landtagsanfrage nicht falsch interpretiere, sind die Werte 33% und 10% über dem Landesdurchschnitt. Ich will ja nix beschönigen, aber zwischen 133 und 33 liegen Welten.

Mo., 18.07.2016 - 12:41 Permalink
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Paul Zanon Mo., 18.07.2016 - 18:44

Antwort auf von pérvasion

Dass zwischen 133 und 33 Welten liegen, ist zutreffend. Ihre Zweifel sind berechtigt, Ihre Interpretation ist nicht richtig. Es handelt sich nicht um höhere Werte von 33% und 10% über dem Landesdurchschnitt. Laut Schlussfolgerung des Amtes für Gesundheit liegen die Werte des Risikos für das KH Sterzing über dem Landesdurchschnitt u.zw. bei den Totgeburten um das 2,66fache und bei den Hirnschäden um das 2,2fache.

Mo., 18.07.2016 - 18:44 Permalink
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Mensch Ärgerdi… Mo., 18.07.2016 - 16:57

Das Problem liegt letztendlich doch nur in den finanziellen Ressourcen bzw. ob das Land zahlen will oder nicht. Die sinnlose Ausgabe für den Flugplatz konnten die Bürger mit ach und krach abwenden, ginge es nach ihnen würden Safety Park, BBT und die Wasserstoffbusse gleich folgen und wir hätten wahrscheinlich genug Geld um die Station zu erweitern statt sie zu schließen.

Mo., 18.07.2016 - 16:57 Permalink
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Stephan Peer Di., 19.07.2016 - 08:38

Im Oktober 2014 wurden in der Presse die Kosten einer Geburt im Krankenhaus in Südtirol veröffentlicht. Diese Zahlen überraschen, da sie sehr hoch sind. Sollte die Summe von 4354 bzw. 7766 Euro für eine normale Geburt wirklich stimmen, dann liegen wir weit über dem, was eine Geburt in Deutschland beispielsweise kostet.
Dort fallen folgende Kosten an, Personal, Infrastruktur, Labor, Medikamente etc. alles mit eingeschlossen:

* Normale unkomplizierte vaginale Geburt 1673,89 Euro, vergütet werden von den Krankenkassen lt. DRG 1846,71 Euro

* Normaler Kaiserschnitt 2384,88 Euro, vergütet werden von den Krankenkassen lt. DRG 3843,20 Euro

Es handelt sich bei diesen Zahlen um eine Doktorarbeit von Sandra Rummel für die LMU München aus dem Jahr 2007, in der erhoben wurde, ob die DRG, die von den Krankenkassen vergütet werden, auch die wahren Kosten einer Geburt decken. Analysiert wurde dafür die Uniklinik Grosshadern. Bei dieser Doktorarbeit (Link siehe unten) wurden alle Kostenbereiche berücksichtigt, die bei einer Geburt und dem darauffolgenden Krankenhausaufenthalt anfallen. In beiden Fällen macht das Krankenhaus sogar einen kleinen Gewinn.

Es wäre jetzt wirklich sehr interessant zu wissen, ob das Kostenniveau hier bei uns so viel höher ist als in Deutschland und falls ja, wo die Ursache dafür liegt.

Link abstract: http://edoc.ub.uni-muenchen.de/6632/

Di., 19.07.2016 - 08:38 Permalink