Gesellschaft | Ein Jahr salto.bz

Klickomanie

Wird man eine bessere Journalistin, wenn man weiß, wie die eigenen Stücke ankommen? Von neuen Süchten, gefährlichen Versuchungen und Vorsätzen für das zweite salto-Jahr.

Ja, ich bin süchtig. Süchtig nach Klicks. Dabei muss ich gestehen: Ich war die letzte in der Redaktion, die sie entdeckt hat. Schließlich bin ich ja gute 15 Jahre  problemlos ohne über die Runden gekommen. Oder sagen wir besser, halbwegs problemlos. Denn wie jede andere Berufskategorie überfällt auch Schreibende in regelmäßigen Abständen die Sinnfrage. Die ganz tiefe, aber auch die eher profane. Die da heißt: Liest da draußen überhaupt jemand, was ich -  je nach Format - nach tagelangen Recherchen oder in frenetischer Hektik in die Tasten gehaut habe?

Eineinhalb Jahrzehnte blieb diese Frage meist unbeantwortet. Ab und zu ein brummeliges „Gute Geschichte“ von den KollegInnen, hin und wieder ein anerkennender Leserbrief oder die Begegnung mit jemanden, der nach der obligaten Vorstellungsrunde von sich gibt: „Ich lese ihre Artikel immer so gerne.“. Doch im Normalfall war der wichtigste Maßstab für einen gelungen Artikel der eigenen Kopf, der sagt: Den braucht es. Und dieses Bauchgefühl, das schon beim Schreiben meldet: Die G’schicht, die sitzt.

Das ist bei salto.bz Vergangenheit. Zumindest seit ein paar Monaten hat mein Bauch hier nicht mehr viel zu melden. Was sitzt oder nicht sitzt, sagt mir – noch weit mehr Eure Herzen oder Kommentare – dieses Teufelsding namens Google Analytics. Klick für Klick ist es Euch auf den Fersen – und verrät mir, was Ihr lest, wie lange Ihr dafür braucht oder wo Ihr es nicht bis zum Ende schafft. Jetzt gerade, in den vergangenen drei Wochen, seit unserem Start. Und das ist ganz nebenbei nur die Basis. Woher wüsste ich wohl sonst, wie oft salto.bz in Usbekistan gelesen wurde?

Süchte

Doch das ist hier nicht das Thema. Woran ich beim Rückblick auf dieses erste Jahr viel mehr kniffel? Was macht diese Sucht, das Teufelsding nach jedem Artikel zu befragen, wie er ankommt, mit uns und mit diesem Portal? Wird Journalismus besser, wenn er die allseits gepredigte Kundenorientierung zum obersten Maßstab erhebt?  Maßgeschneiderte Konsumartikel für die gläsernen KonsumentInnen, klickgesteuerte Infos für die gläsernen LeserInnen?

Das ist allerdings viel zu suggestiv gefragt. Denn erstens gibt es bei salto.bz klarerweise auch andere Maßstäbe als Klicks. Und außerdem haben wir – und damit auch Ihr – dem Big-Google-Brother sicher mehr zu verdanken als vorzuwerfen.  Das zeigen der Süchtlerin schon allein die kontinuierlich steigenden Zugriffe dieses ersten Jahres.  Ein Erfolg, der sicher auch damit zusammenhängt, dass uns jedes Stück, das abhebt oder absäuft ein wenig besser lehrt, was Euch da draußen interessiert und unter den Nägeln brennt.

Womit wir aber auch beim kritischen Teil angelangt wären. Um es ganz offen zu sagen: Ihr seid eben auch nur Menschen. Ziemlich empfänglich für schnelle Reize, eher sperrig bei allem, wo es ernst oder ein wenig komplexer wird. Und so wird die wichtige Umweltgeschichte ungleich knausriger mit Zuwendung bedacht als eine Fotostrecke über Marie Måwe. Die aufwendig recherchierte Story mit mehreren Standpunkten bringt oft weniger als ein aus Facebook übernommenes provokantes Zitat. Und das Interview mit dem einfachen Arbeitslosen lässt die Kurve weit weniger in die Höhe schießen als die  Arbeitslose von Hanspeter Munter – ganz zu schweigen von einer differenzierten Analyse des Phänomens Arbeitslosigkeit.

Versuchungen

Ist das eine Überraschung? Im Grunde nicht. Eine Versuchung bleibt es allemal. Zumindest für ein Team, das vor einem Jahr mit dem Anspruch angetreten ist, so weit es die beschränkter Mittel eben zulassen auf Qualitätsjournalismus zu setzen,  Alternativen und neue Sichtweisen aufzuzeigen und nicht immer dem allgemeinen Strom zu folgen. In vielen Fällen gelingt dies gerade deshalb, weil wir so direkt an Eurem Puls sind. Doch so manche Geschichte, die Bauch und Kopf vorgeben würden, wird nicht geschrieben, weil mir Google einflüstert, das dies ohnehin nur eine Minderheit interessiert. So mancher Titel wird noch ein wenig zugespitzt, weil wir wissen, wie sehr Ihr das doch mögt. Und so manch wichtiges Thema wird wahrscheinlich vernachlässigt, weil uns die Zahlen beweisen, dass das ganze Land derzeit ohnehin nur über Politikerrenten diskutiert.

Schließlich sind auch wir nur Menschen. Und leben in einer Welt, in der Zahlen immer noch das weitaus größte Gewicht zugeordnet wird –  egal ob es um das finanzielle Überleben oder um die Anerkennung geht, die wir am Ende alle für unsere Arbeit suchen.

Muss ich sie also kurieren, meine Sucht, in diesem nun anbrechenden zweiten salto-Jahr? Ein wenig Entwöhnung ist wohl angesagt. Zumindest tageweise auf den Google-Einflüsterer zu pfeifen – und wieder nur die alten Instinkte arbeiten lassen. An den Geschichten dranbleiben, von denen ich schon vorab weiß, dass sie vielleicht nur 70 von Euch lesen – aber es trotzdem wichtig finde, dass sie geschrieben werden. Denn: Es ist wirklich ein verdammt gutes Gefühl zu sehen, wie die Klicks nach oben schießen. Und es ist richtig toll, von Euch zu lernen, was Ihr mögt und was weniger.  Doch dabei ein wenig an der Hand genommen zu werden, tut uns wohl allen gut.