Politik | Referenden

Geweckte Geister

16 Jahre lang schlummerte ein Artikel in der italienischen Verfassung. Plötzlich aber bringt er Bewegung in die italienische Politik. Autonomie zu Propagandazwecken?
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Foto: Il Post
Die Referenden im Veneto und in der Lombardei haben offenbar schlafende Geister geweckt. Denn jetzt hat der Wettlauf um Autonomie voll eingesetzt. Von Ligurien über Piemont bis zur Basilicata - die Liste der Regionen, die Volksabstimmungen anpeilen, wird täglich länger. Bizarr genug: denn den mittlerweile bestens bekannten Artikel 116 über den regionalismo differenziato gibt es seit der Verfassungsreform des Jahres 2001.
Unglaublich, aber wahr: 16 Jahre lang ist es keiner Region eingefallen, ihn zu beanspruchen. 23 Sachgebiete - von der  Bildung über den Denkmal- und Umweltschutz, von der Ziviljustiz über die Energie bis hin zu den internationale Beziehungen können auf die Regionen übertragen oder mit dem Staat geteilt werden. Der Artikel 116 sieht kein Referendum vor, schliesst es aber nicht aus.
Unglaublich, aber wahr: 16 Jahre lang ist es keiner Region eingefallen, diesen Artikel zu beanspruchen.
Für jede Region muss die Regierung einen Gesetzentwurf vorlegen, der vom Parlament mit absoluter Mehrheit genehmigt werden muss.
Die entsprechenden Mittel werden den Regionen direkt zugeteilt, aber vom Gesamtbetrag für das jeweilige Jahr abgezogen. Diese Summen muten freilich bescheiden an gemessen am vieldiskutierten residuo fiscale, den von den Regionen kassierten und an den Staat übertragenen Steuergeldern. Residuo fiscale ist die Differenz zwischen dem, was ein Bürger an Steuern und Abgaben bezahlt und dem, was er an Dienstleistungen zurückbekommt. Die Lombardei beziffert diesen Betrag auf 54 Milliarden, Venetien auf 15 Milliarden jährlich.
Die Zahlen beleuchten eindringlich das Nord-Süd-Gefälle: während jeder Lombarde jährlich fast 4000  Euro ausgibt,  "verdient" jeder Sarde ohne eigenes Zutun 3169 Euro. Jeder Südtiroler trägt jährlich mit 2209 Euro zum gesamtstaatlichen Steueraufkommen bei - mehr als jeder Bewohner Venetiens (711 Euro).
Ein beträchtlicher Teil der Steuergelder des Nordens dient den Regionen des Südens zur Abeckung ihres Defizits. So erhält die Region Sizilien jährlich 10,6 Milliarden Euro, Sardinien 5,2 Kalabrien 5,8  Kampanien 5,7 und Apulien 6,4 Milliarden. Dieses Verteilungssystem kann durch kein Referendum gekippt werden, weil Volksabstimmungen über das Steuersystem in Italien nicht zulässig sind.
Das weiss Venetiens Präsident Luca Zaia genau. Denn 2015 hat das Verfassungsgericht einen von seiner Regionalregierung vorgelegten Antrag auf Volksabstimmung als verfassungswidrig abgelehnt. Darin war die Forderung erhoben worden, 80 Prozent der im Veneto kassierten Steuergelder in der Region zu belassen. 
Der langjährige Präsident des Verfassungsgerichts, Ugo De Siervo, kritisiert Zaia wegen seiner Forderung, Venetien mit einem Sonderstatut auszustatten: "Non è lecito che i promotori di un referendum propongono dopo soluzioni molto eccedenti agli interrogativi da loro posti agli elettori." 
Dieses Verteilungssystem kann durch kein Referendum gekippt werden, weil Volksabstimmungen über das Steuersystem in Italien nicht zulässig sind.
Wie auch immer - die Referenden haben Bewegung ins Thema Autonomie gebracht. Die Region Emilia Romagna wird in diesen Tagen die erste sein, die mit der Regierung über die Abtretung einiger Kompetenzen verhandelt. Dass sich das Thema auch hervorragend zu Propagandazwecken ausschlachten lässt, beweist der populistische Lega-Chef Matteo Salvini: „Sosterremo attivamente tutte le regioni che ora vogliono chiedere un referendum.“