Herr Balibar, was hat die Eurokrise aus Europa gemacht? Ist Europa noch zu retten?
Die gegenwärtige Krise, die als globale Finanzkrise begann, und dann zu einer europäischen Banken- und Staatsschuldenkrise wurde, hat gezeigt, dass das europäische politische System nicht im Stande war und ist, auf die wirtschaftliche Herausforderung demokratisch zu reagieren. Im Gegenteil, die Europäische Kommission und die europäische Zentralbank versuchten und versuchen, eine Art von autoritärer Legitimität außerhalb demokratischer Prozesse zu erzeugen und ihre Politik durch eine Revolution von Oben durchzusetzen. Zu deren Auswirkungen gehören die institutionellen Widersprüche der EU, die riesigen Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Ländern der EU, und nicht zuletzt die gravierenden sozialen Auswirkungen der Politik, mit der versucht wird, der Krise Herr zu werden. Diese haben schlussendlich auch eine moralische Dimension, nämlich die Delegitimierung der europäischen Institutionen und des europäischen Projekts, und eine tiefgehende Verunsicherung unter vielen Menschen in Europa. Das gilt nicht nur im Süden, sondern in ganz Europa, z.B. auch in Frankreich, was unter bestimmten Umständen zu extremen Auswüchsen führen kann. Dabei ist die Finanzkrise immer noch nicht wirklich vorbei, und weder in Europe noch auf globaler Ebene sind die Probleme, die zur Krise geführt haben, gelöst.
Durch die europäische Banken- und Staatsschuldenkrise haben sich die Gegensätze zwischen den EU-Ländern vergrößert, das Ansehen der EU ist vielerorten abgestürzt. Was bedeutet das für die Zukunft Europas?
Die zunehmende Ungleichheit und Spaltung zwischen den einzelnen Ländern ist einer der Widersprüche in der derzeitigen Verfasstheit der EU. Was früher die Teilung in Ost und West war, ist heute ein scharfer Abgrund zwischen Süd und Nord, zwischen Gläubigernationen und Schuldnerstaaten. Die Frage ist: Wie groß kann der Abgrund, das „Wohlstandsgefälle“ werden, ohne dass die EU auseinander bricht? Sogar Liberale wie Jürgen Habermas, obwohl er derzeit in vieler Hinsicht eine sehr progressive Rolle spielt, favorisieren ja die Idee eines Kerneuropas und eines peripheren Europas, was mit der EU, die wir derzeit haben, nicht zusammen geht. Man müsste Länder aus dem Euro ausschließen, um das durchzusetzen.
Sie diagnostizieren ein Legitimitätsdefizit der europäischen Institutionen. Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang das Krisenmanagement von Europäischer Kommission und Europäscierh Zentralbank ?
Ich bin Realist, und leugne nicht, dass es historische Situationen geben kann, wo in einem Ausnahmezustand eine Art von autoritärer Legitimität außerhalb demokratischer Prozesse entstehen kann. Das ist mehr oder weniger das, was die Europäische Kommission und die europäische Zentralbank seit mehreren Jahren versuchen: ihre Politik durch eine Art Revolution von Oben durchzusetzen. Allerdings glaube ich nicht, dass dies funktionieren wird, nachdem die öffentliche Meinung dies nicht länger unterstützt. Auch weil es nicht mit den Nationalgefühlen und dem Widerstand der verschiedenen Ländern zusammengeht, einschließlich in Deutschland. Ich glaube nicht, dass diese Widersprüche mit dem derzeitigen politischen Instrumentarium Europas aufgelöst werden können.
In der Krise hat sich Europa als brutale Maschine der Strukturanpassung erwiesen: In Griechenland, Italien, Spanien, sogar in Frankreich wird im Namen Europas umstrukturiert, privatisiert, werden Löhne gekürzt, Sozialleistungen beschnitten, Arbeitnehmerrechte wegreformiert...
Ja, natürlich, aber das ist nur eine Seite der Medaille. Und wenn Sie ausschließlich auf diese eine Seite blicken, dann landen Sie unmittelbar bei dem sehr verbreiteten Anti-Europäismus, der - auf verstörende Weise – von Leuten auf der radikalen Linken und radikalen Rechten geteilt wird. Wir sollten diesen Aspekt - die EU als neoliberale Strukturanpassungsmaschine - auf keinen Fall verleugnen, aber wir müssen ihn in einen größeren Zusammenhang setzen, und die europäische Integration als historischen Prozess betrachten, um ihre inneren Widersprüche zu sehen.
Was ist für Sie das Gefährliche an einer derart ‚einseitigen‘ Europakritik?
Ich bestehe auf der Wichtigkeit einer globalen Perspektive, und weigere mich, mich zwischen dem blinden Verfechten des europäischen Projekts, vor allem wie es sich derzeit entwickelt, und einer rein anti-europäischen Position entscheiden zu müssen. Letztere spielt im Endeffekt dem Nationalismus in die Hände, den es heute in allen Ländern Europas gibt, und der eigentlich nur selbstzerstörerische Wirkung haben kann. Der Ausweg ist, darauf zu bestehen, dass es Alternativen gibt. Nun kann man sagen, dass diese Alternativen, die ich aufzeichne, sehr hypothetisch sind, oder davon abhängen, dass sich die sozialen und politischen Kräfteverhältnisse in Europa ändern, was im Moment nicht sehr wahrscheinlich ist. Und natürlich ist meine Sicht der Dinge eher pessimistisch, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Krise sich nicht verschlimmern wird.
Was halten Sie von Vorschlägen, die EU wieder zurückzubauen, den Euro zu verlassen?
Ich glaube, dass die europäische Integration zumindest teilweise unumkehrbar ist, wegen der wechselseitigen Abhängigkeiten der verschiedenen Länder, ihrer Gesellschaften und Wirtschaften, weshalb ich sogenannte „souveränistische“, oder nationalistische Positionen für vollkommen abstrakt und ideologisch halte. Andrerseits ist mir natürlich klar, dass die EU als transnationales Gefüge trotzdem auseinanderbrechen kann. Nichts ist in völlig unerschütterlicher Form gebaut. Ich möchte einen Vergleich bemühen, der vielleicht auf den ersten Blick lächerlich wirkt, und zwar der zwischen Sowjetunion und Europäischer Union: Die SU und die EU sind nunmal die zwei Beispiele für transnationale Gefüge in Europa, die zu der Geschichte des 20. Jahrhunderts gehören. Beide wurden um ein ökonomisches Dogma herum aufgebaut, das wie ein politischer Mythos funktionierte: Im Fall der SU war das die Planwirtschaft, im Fall der EU ist es das neoliberale Dogma des allmächtigen Marktes ohne Beschränkungen. In beiden Fällen wurde und wird das ökonomische Dogma blind angewandt, was zu krisenhaften politischen Auswirkungen führt. Der Vergleich zeigt, wie schwierig es ist, eine supranationale politische Einheit aufzubauen, und dass, wenn ein zumindest teilweise irreversibler Einigungsprozess einmal vollzogen wurde, ein Kollaps zu katastrophalen Situationen führen kann.
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