Umwelt | (Winter-)Tourismus

Ein Skikarusell im Mittelgebirge

Ganz kurz vorab: Vor plus/minus zehn Jahren wurde in Seis die Seilbahn auf die Seiser Alm gebaut. Vorausgegangen war diesem Bau ein längerer und intensiverer "Kampf" von ein paar Seiser *ähem* Visionären, Engagement übrigens, das die Kastelruther stets belächelten.
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Sie belächelten so lange, bis die Bahn eingeweiht war. Es darf vermutet werden, dass es in dieser Sache  immer auch oder gar in erster Linie um Kirchtürme ging, anderenfalls wäre die Talstation der Bahn irgendwo in der Mitte geplant worden, und die Sache wäre erledigt gewesen. Aber es musste anders kommen, und weil das so ist, und weil immer noch die Kirchtürme unseren Blick verstellen und unser Denken vernebeln, will Kastelruth jetzt auch eine Seilbahn. Eine eigene, ganz für uns allein, auf den Puflatsch, wo nichts ist als schönster Berg und feinste Natur, und es tut der Euphorie unter den Promotoren kein bisschen keinen Abbruch, dass fast alles gegen und so gut wie nichts für ihre "Vision" spricht, die übrigens bald 40 Jahre auf dem Buckel hat.

So war das, bis vor wenigen Wochen, und es war schmerzhaft genug; man stelle sich vor, in der Ära der Klimaerwärmung und rückläufiger Skifahrerzahlen und großflächigen Apfelanbaus auch bei uns im Gebirge (ich selbst habe gerade eben frischen Rosmarin geschnitten, in meinem Garten) - in diesen Zeiten also will man bei uns und mit brachialer Gewalt auf Skifahrer setzen, in einem Dorf, das eine sehr lange und überaus starke "grüne“ Saison hat (sie könnte noch viel stärker sein), und das überdies sehr gut an sein Skigebiet - die Seiser Alm - angebunden ist. Man will das, weil scheinbar „die Wirtschaft“ halbtot darniederliegt, und die Skifahrerseilbahn, die soll das richten, und bitte schnell, und bitte mühelos.

Inzwischen ist aber selbst dieser Alptraum schon wieder Schnee von gestern, und zwar so: Während ich neulich um halb sieben beim Bäcker stand, blinzelte mich ein Flugblatt an, und weil ich nichts Besseres zu tun hatte, sah ich hin, zum Flugblatt, und wäre um ein Haar aus meinen Schuhen gekippt: Da stand geschrieben, dass die bisherige (Vision einer) Marinzen-Puflatsch-Seilbahn jetzt noch visionärer ist, und zum "Skikarusell Kastelruth-Seiser Alm-Seis" angeschwollen ist. Skikarusell, jawoll. Mit zwei nagelneuen Pisten, von der Alm (+/- 1.800 Höhenmeter) nach Kastelruth (1100 minus Höhenmeter) und nach Seis (1000 minus Höhenmeter).

Der Schock ist immer noch nicht verdaut, und bis das soweit ist, beschäftige ich mich noch ein bisschen mit einer Frage, die heute ein Skikarusell-Befürworter auf der neuen facebook-Seite des Seilbahn-Promotoren-Komitees in den virtuellen Raum stellte, nämlich „warum die Leute (= Gäste) fehlen, in Kastelruth“. Ja, das ist eine gute Frage (vorausgesetzt, sie fehlen tatsächlich, „die Leute“, denn auch darüber könnte vermutlich lange diskutiert werden), eine sehr gute Frage, auf die es wahrscheinlich viele Antworten gibt, nur an eine Antwort glaube ich nicht, und das ist die der Seilbahn-und-Pisten-Woller: Sie fehlen, weil Kastelruth keine Seilbahn hat.

Dabei könnte es doch auch sein, dass sie - zum Beispiel – fehlen, "die Leute", weil sie sich nicht wirklich willkommen fühlen?; Betriebe und Restaurants mitten in der Saison geschlossen sind (Dunkles-Dorf-Effekt)?; sie auf der ganzen Dorf-Anfahrt und Willkommen-Allee von geschlossenen Rolläden „begrüßt“ werden?; sie für eine Fahrt von Kastelruth zur Seiser Alm-Bahn/von dort (weiß jetzt nicht mehr so genau) ein eigenes Ticket lösen müssen, trotz 3-Wochen-Skipass?; sie ins Dorf hinunter skischuhstiefeln müssen, wenn sie mit dem Bus in die Sella Ronda wollen?; sie über die Weihnachts- und Neujahrstage auf der Alm kein Depot zu mieten bekommen?; unfreundliche Busfahrer sie anpöbeln?; es im ganzen Dorf kein Lokal gibt, in dem sie einen gepflegten Aperitif nehmen können?; es in fast allen Restaurants seit bald Menschengedenken die immergleichen Speisekarten gibt?; es keine (kaum eine, ok ok...) Veranstaltung gibt, die es nicht seit bald 40 Jahren schon genauso gibt?; Bagger unsere Gäste schon um 8 in der Früh aus den Betten hämmern dürfen?; Laster/Busse/Motorräder/Traktoren ungehindert durch die Touristenhochburg rasen = lärmen dürfen, als seien sie auf dem Nürburgring?; die Marinzenhütte geschlossen ist, derweil sie auch im Winter und ohne Skier ein schönes Ziel wäre?; hier niemand so recht weiß, in welcher Richtung der Hafen liegt, und also jeder beliebige Wind uns mal hierhin und mal dorthin blasen kann?; und das auch rüberkommt?; wir Häufen Gelder zum Fenster rauswerfen, für Marketing und Image, und über dem Marketing auf das Wesentliche vergessen, nämlich die Güte = Qualität des Produktes/der Dienstleistung?;  in Wahrheit niemand so richtig Lust hat auf das, was sie tut?; wir nicht mehr für unsere Gäste/Kunden, sondern nur noch für die Louis-Vuitton-Tasche, den Porsche Cayenne und den Dubai-Urlaub arbeiten?; wir unsere Gäste zu Touristen und das Gastgewerbe zur Tourismusindustrie degradiert haben?; wir uns mit dem Mittelmaß oder weniger eingerichtet haben?; wir unser schönes Dorf mit all seinem Reichtum auf seinen Kirchturm und seine Berühmtheiten zusammen streichen?; wir nicht den Mut haben, "Nein“ zu sagen?

Und noch eine Möglichkeit sollten wir vielleicht in Betracht ziehen, bevor wir uns in Kamikaze-Aktionismus stürzen: Peter Dipoli, Weinhändler und Winzer, laut ff (Nr. 2, 9. Januar 2014) „Querdenker und einer der kreativsten Köpfe der Südtiroler Weinwirtschaft“, auf Seite 14 in ebendieser ff und auf die Frage, „Machen wir genug aus dem was wir in unserem Land haben?: „Wir machen das, wozu wir fähig sind. Wir könnten mehr an Fähigkeiten gut gebrauchen. Die heutigen Hoteliers waren einmal Bauern, die einige Gästebetten vermietet haben, heute führen sie meinetwegen Viersternehotels. Sie machen, was sie können, aber sie könnten noch mehr. (…).“

 

 

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Benno Kusstatscher Mi., 22.01.2014 - 21:33

Silvia, "schöne" Zustände habt Ihr da oben. Wenigstens haben sie Dich wieder zur Feder bewegt. Schön von Dir zu lesen, auch wenn man von neuen Liften nicht so gerne liest (irgendwie so, wie mit den Autobahnen)

Mi., 22.01.2014 - 21:33 Permalink
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Sylvia Rier Fr., 24.01.2014 - 07:30

Antwort auf von Benno Kusstatscher

für dein welcome back (du hältst dich aber auch sehr zurück, mit Texten, oder :-) ) Ja, es ist ein Alptraum, wir tun alleweil so als sei immer noch alles wie vorgestern, einerseits, und als gäb's kein Morgen, andererseits. Mir fällt da immer eine Dokumentation ein, die ich vor vielen Jahren gesehen hatte, über die Geschichte der Tomatenproduktion in Andalusien, glaube ich. Ein paar hatten damit angefangen, und es lief prächtig, und über die Jahre und Jahrzehnte wurden die Tomaten"bauern" immer mehr, und das Wasser immer weniger, weshalb sei den immer größeren (absurderen) Aufwand betreiben mussten, um ihre Pflanzungen bewässern zu können. Ich glaube, als ich den Film sah, holten sie das Wasser aus dem Norden Spaniens, quer durchs ganze Land und hatten am Ende eine Technik/Sorte "entwickelt", bei der die Frucht fast ohne Wasser auskommt... Statt dass sie was anderes angebaut hätten, als sie sahen, dass es nicht (mehr) gut war... Und ich weiß noch, wie ich ihnen dabei zu sah, und mir dachte, ja, warum verstehen die denn nicht, wie unsinnig das ist, was sie tun. Aber sie taten einfach weiter, wahrscheinlich tun sie's noch, und vielleicht ist ja der Mensch bloß zu langsam, für die schnelle Welt, in der wir leben :-)

Fr., 24.01.2014 - 07:30 Permalink
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Sylvia Rier Fr., 24.01.2014 - 13:37

die Seilbahn an und für sich wäre wahrscheinlich das kleinere Übel - vorausgesetzt, es bliebe auch dabei. Aber auch hier gilt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, was überall gilt und allgemein beobachtet werden kann, nämlich "da cosa nasce cosa" (hier aber im negativen Sinne), und Masse will Masse. Das kann doch auch z. b. bei Straßen sehr schön beobachtet werden, oder? Je "besser" (= schneller) die Straße, desto mehr Verkehr, bis über kurz oder lang die ausgebaute Straße auch wieder ausgebaut werden muss. Aber davon abgesehen müssen m. E. Aufwand und Kosten vor allem bei Großprojekten in einem gesunden Verhältnis stehen, wobei sowohl Aufwand als auch Kosten in ihrem weitesten Verständnis gemeint sind. Nicht zuletzt sagst du ganz richtig, dass unsere Verhältnisse nicht die Sextner Verhältnisse sind, und das ist IMHO ein weiterer Fehler, den wir hier machen: Wir vergleichen uns alleweil mit unseren Nachbarn und anderen Skigebieten, derweil wir aber natürlich weder unsere Nachbarn noch andere Skigebiete sind...

Fr., 24.01.2014 - 13:37 Permalink