Politica | Sanität

Vernichtendes Gutachten

Die Spitze der Südtiroler Sanität weiß seit acht Tagen, dass die aus China importierten Atemschutzmasken nicht so wie geplant verwendbar sind. Nur sagt man das nicht.
Erfolgsgeschichten haben meistens auch Schattenseiten.
Dabei kann es passieren, dass diese dunklen Flecken so groß sind, dass sie die Strahlkraft der frohen Botschaft überdecken und am Ende ein Scherbenhaufen übrigbleibt, um den sich nur mehr Verlierer scharen.
Genau das könnte auch bei dieser Geschichte der Fall sein. Weil es aber im wahrsten Sinne des Wortes um Menschenleben geht, muss sie dennoch erzählt werden. Anhand von Dokumenten, die Salto.bz vorliegen, kommt dabei eine fast unglaubliche Affäre zum Vorschein. Es ist die Chronik einer zumindest fahrlässigen Aktion an der Spitze des Südtiroler Sanitätsbetriebes. Einer Operation, die Hunderte von Ärzten, Pflegern und Krankenhausangestellten, Apothekern oder Mitarbeitern in Altersheimen in Gefahr bringen könnte.
 

Die Erfolgsgeschichte

 
Der ungezügelte Wettlauf um Schutzmasken, Schutzkleidung und Atemschutzmasken, die vor allem in China hergestellt werden, ist so groß, dass viele Staaten, Länder und Institutionen sich schwer tun, rechtzeitig an das benötigte Material zu kommen. Überall kommt es zu gefährlichen Engpässen.
Südtirol kann dabei von Glück reden. Einer global-lokalen Public-Private-Partnership zwischen dem Land Südtirol und dem Sportartikelhersteller Oberalp Group ist es vor drei Wochen gelungen, 1,5 Millionen Schutzmasken und 450.000 Schutzanzüge zu bestellen
Weil es in Italien nicht gelungen ist, schnell eine Militärmaschine für den Transport aus China zu finden, ersuchte Landeshauptmann Arno Kompatscher den österreichischen Kanzler Sebastian Kurz um „Nachbarschaftshilfe“. Diese kam umgehend. Die Luftfracht wurden in einer AUA-Maschine vom Flughafen Xiamen in China zum Flughafen Schwechat in Wien und dann nach Bozen gebracht. Ein Teil der Schutzmasken und -kleidung wurde dafür dem Bundesland Tirol abgeben.
 
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Salewa-Manager Christoph Engl (bei der Übergabe der Masken aus China): Gesamtpaket um 10 Millionen Euro. (Foto Sabes)

 
Der Südtiroler Sanitätsbetrieb hat bei der Oberalp Group insgesamt eine Million chirurgische Masken, je 250.000 FFP2- und FFP3-Masken, 400.000 Schutzanzüge und 30.000 Schutzanzüge für den aseptischen Gebrauch eingekauft. Die Kosten für dieses Gesamtpaket plus Transportkosten: über 10 Millionen Euro.
Am 24. März treffen die Masken in Bozen ein. Wenig später beginnt man mit der Verteilung. Zuerst in den Sanitätsbetrieben, den Altersheimen und in den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen.
 

Verborgene Wahrheit

 
In den Südtiroler Krankenhäusern sind aber vor allem die FFP2- und FFP3-Atemschutzmasken gefragt. Klassifiziert sind diese angekauften Masken aus China, auf deren Verpackung ausschließlich chinesische Schriftzeichen aufscheinen, nach dem amerikanischen Standard als „KN95“. Die WHO stuft die Wirkung dieser Masken zwischen dem FFP2- und FFP3-Standard ein.
Diese Masken sollen Ärzte, Krankenschwester und Pfleger bei der Arbeit mit Coronakranken vor direkter Infizierung schützen. So wurden in den vergangenen zehn Tagen Zehntausende dieser FFP-Masken südtirolweit verteilt.
Was die Träger und Trägerinnen dieser Schutzausrüstung aber bisher nicht wissen: Ein Großteil der Masken erfüllt kaum den Zweck, für den sie erworben wurden. Der Grund sind nachhaltige Konstruktionsfehler, die gleich in zwei Expertengutachten analysiert werden.
 

„Ohne Prüfung“

 
Die gekauften Schutzbehelfe weisen nur eine chinesische Zertifizierung auf. In der EU müssen sie deshalb vor Gebrauch zugelassen werden. Bei dieser Zulassung wird nicht nur geprüft, ob sie den Normen entsprechen, sondern es werden auch Material- und Gebrauchstests durchgeführt. Weil die Ladung in Wien ankommt und Österreich ebenfalls mehrere Millionen dieser Masken ankauft, übernimmt Wien diese Zertifizierung auch für Südtirol.
Man beauftragt die „DEKRA Testing and Certification GmbH“ aus Essen. Es handelt sich um die größte und bekannteste bundesdeutsche Prüfanstalt. Der „Prüfbericht No. 3416906.10QT PSA“ am 27. März 2020 analysiert sowohl die chirurgischen Masken als auch die KN95-Masken aus dem Südtiroler Paket. Die Testergebnisse sind für beide Produkte völlig abnormal.
 
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Dekra-Sitz in Stuttgart: Gutachten ohne verwertbare Ergebnisse.

 
Im Bereich der Wange waren deutliche Lücken zu erkennen“, schreiben die Gutachter zu den KN95-Atemschutzmasken. Die DEKRA macht alle vorgesehenen Tests zur Materialdurchlässigkeit, zur Durchlässigkeit des Filtermediums oder zum Atemwiderstand. Doch Ergebnisse gibt es kaum. „Auf Grund der Auffälligkeiten eingeschränkte Prüfung / ohne Prüfung“, heißt es in fast allen Zahlen- und Testreihen.
Im Klartext: Die Lücken an den Wangen sind so groß, dass keine verwertbaren Messungen gemacht werden konnten.
Das Gutachten endet nach 12 Seiten dann auch völlig unüblich ohne Zusammenfassung, Bewertung oder Empfehlung.
 

Bombe aus Wien

 
Gleichzeitig werden aus dem Südtiroler Paket am Flughafen Schwechat aber auch 50 KN95-Masken entnommen und ins Amt für Rüstung und Wehrtechnik gebracht. Die Labors und Werkstätten in Wien Simmering sind das offizielle Forschungs- und Testinstitut des österreichischen Verteidigungsministeriums und des österreichischen Bundesheeres.
Überprüfung der Prüfmuster der bereits nach Südtirol gelieferten 500.000 Stk KN95 -Masken aus China“, lautet der offizielle Auftrag. Im Gutachten wird dann festgehalten, dass 5 Masken je Set in einer durchsichtigen Kunststofffolie verpackt sind. Dabei wird festgestellt, dass die Masken zum Teil unterschiedliche Größen aufweisen. „Dies hatte zur Folge, dass bei 39 Masken beim Anlegen ein Dichtsitz im Bereich des Kinns und der Wangen nicht möglich war“, heißt es im Gutachten.
Ebenso konstatieren die Gutachter, dass bei einer Maske beim Anlegen die Kopfbänderung und bei einer weiteren Maske beim Anlegen der Maskenstoff im Bereich des Kinns rissen. Die Gutacher sprechen von einem „mechanischem Versagen“.


Alles andere als FIT

 
Der wichtigste Faktor bei einer Atemschutzmaske ist der sogenannte „Overall Fit Faktor“, allgemein mit Fit-Faktor angegeben. Dieser Wert beschreibt die mit dem Prüfgerät an einem Probanden ermittelte, nach innen gerichtete Leckage, aus der sich die Schutzleistung der Maske ableiten lässt.
 
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Amt für Rüstung und Wehrtechnik in Wien Simmering: „Dichtsitz im Bereich des Kinns und der Wangen nicht möglich.“

 
Ein Fit-Faktor von 20, den eine FFP3-Maske erfüllen muss, entspricht einer nach innen gerichteten Leckage von 5 Prozent. Das heißt: von 100 Partikeln in der Einatemluft werden 95 Partikel von der Maske zurückgehalten. Eine FFP2-Maske muss den Fit-Faktor von 9 bzw. einer nach innen gerichteten Leckage von 11% erfüllen, eine FFP1-Maske – es handelt sich hier um den normalen chirurgischen Mundschutz – muss lediglich einen Fit-Faktor von 4 und somit eine nach innen gerichteten Leckage von 25% erfüllen.
Von den 48 im Amt für Rüstung und Wehrtechnik getesteten Masken ereichten nur 4 Masken den Fit-Faktor von 20 und erfüllen somit den FFP3-Status. 5 Masken kamen auf den Fit-Faktor 4 und erfüllen somit den FFP1-Status.
39 Masken erreichten aber nur den Fit Faktor von durchschnittlich 2,5 und erfüllen somit nicht einmal den FFP1-Status“, schreibt der Gutachter.
Im Klartext: Sie sind bessere Schlauchtücher.
 

Empfehlung: Nicht verwenden


Am Ende des Gutachtens fasst Oberstleutnant Diplom-Ingenieur Klemens Groh die Prüf- und Messergebnisse zusammen.
Es ist ein vernichtendes Resümee:
 
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Damit wird deutlich, dass der Großteil der angeblichen 250.000 FFP-3- und die 250.000 FFP2-Masken, die der Sanitätsbetrieb um 665.000 Euro angekauft hat, wohl kaum das Geld wert ist, das man gezahlt hat.
 

Fragliches Krisenmanagement

 
Beide Gutachten wurden Ende vorvergangener und Anfang vergangener Woche aus Wien nach Südtirol übermittelt. Den Südtiroler Vermittlern für den Ankauf und noch mehr der Spitze des Sanitätsbetriebes lassen sie das Blut in den Adern gefrieren.
An der Spitze des Südtiroler Sanitätsbetriebes kommt es zu mehreren Krisensitzungen. Die Vorgabe ist dabei von Anfang an klar: Das Wiener Gutachten darf auf keinen Fall nach Außen dringen. Das ist das oberste Gebot.
Deshalb hält man die Informationen ganz bewusst im kleinen Kreis. Ob Landesrat Thomas Widmann eingeweiht wird, ist nicht ganz klar.
 
Zerzer. Florian

Generaldirektor Florian Zerzer: „Die Gutachten mit Fachleuten ausführlich analysiert“.

 
Tatsache ist, dass man einen Ausweg aus dem Schamassel sucht, ohne die Belegschaft oder gar die Öffentlichkeit über das vernichtende Wiener Prüfergebnis informieren zu müssen.
Wir haben die Gutachten und die Lage mit unseren Fachleuten und klinischen Hygienikern ausführlich analysiert“, stellt Generaldirektor Florian Zerzer die Vorgänge völlig anders dar. Dabei habe man sich auch mit den Fachleuten der Uniklinik Innsbruck verständigt. Auch dort werden Masken aus derselben China-Lieferung verwendet. Man sei gemeinsam zur Ansicht gekommen, dass die Masken eingesetzt werden können. Das Problem sei ausschließlich die Art der Verwendung.
Wichtig ist, dass die Mitarbeiter die Masken richtig anziehen“, fasst Zerzer gegenüber Salto.bz das Ergebnis der Beratungen zusammen. Zudem hätte man entschieden, diese Masken nicht im Intensivbereich zu benutzen.
 
 

Das Rundschreiben

 
Am vergangenen Dienstagmorgen verschickt der Sanitätsdirektor des Gesundheitsbezirkes Bozen Roland Döcker dann ein Rundschreiben an alle Mitarbeiter. Dort heißt es:
 
Bezüglich der KN95 Masken, einer Produktlinie, die sich zwischen der uns bekannten FFP2- und FFP3-Masken einordnet ersuchen wir Sie darum sicherzustellen, dass diese Masken in den Covid-19 Bereichen mit mittlerem Risiko, sprich in den Covid-19 Normalstationen bzw. Verdachtsbereichen in der direkten Patientenversorgung oder bei der Durchführung der Covid-19-Abstriche zum Einsatz kommen. In den Hochrisikobereichen, wie auf den Covid-19 Intensivstationen, in der Infektionsabteilung und überall dort, wo mit Aerosolbildung infolge von nicht invasiver Beatmung, In- oder Extubation, endotrachealem Absaugen oder Bronchoskopien zu rechnen ist, ersuchen wir Sie weiterhin die FFP3-Masken zu nutzen.
 
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Bozner Sanitätsdirektor Roland Döcker: „gebenenfalls sollen auch mehrere Masken anprobiert werden, um die richtige Größe zu finden.“

 
Bei den KN95-FFP2- und FFP3-Masken ist großes Augenmerk auf das korrekte Tragen der Masken zu lenken. Zu große oder zu kleine Masken, bei der Bewegung verrutschende Masken oder freie Öffnungen zwischen Nase, Wangen oder Kinn sind zu vermeiden. Es gilt die MitarbeiterInnen darin zu sensibilisieren, dass die Maske den Bereich Mund und Nase gut abdecken und verschließen muss und ggfs. auch mehrere Masken anprobiert werden sollen, um die richtige Größe zu finden.
Falls erforderlich ersuchen wir Sie auch Nachschulungen hierzu in den multiprofessionellen Betreuungsteams in Ihren Gesundheitsbezirken zu aktivieren.“
 
Wenig später folgt ein ähnliches Rundschreiben für den gesamten Südtiroler Sanitätsbetrieb. Diesmal unterzeichnet von Generaldirektor Florian Zerzer, Sanitätsdirektor Paolo Bertoli, Pflegedirektorin Marianne Siller und Verwaltungsdirektor Enrico Wegher.
Auch dort wird darauf verweisen, dass man beim Anlegen der Maske besonders vorsichtig sein muss.
Vordergründig dient das Schreiben dem Schutz der Mitarbeiter.
Diese Dienstanweisung erfüllt aber auch noch einen anderen Zweck: Die Verantwortung liegt plötzlich bei jeder einzelnen Mitarbeiterin und bei jedem Mitarbeiter des Sanitätsbetriebes. Sie müssen Sorge tragen, dass sie die Masken richtig anziehen.
Diese Verwirrspiel geht aber nur auf, solange die Gutachten aus Wien in der Schublade versteckt werden.
Bisher ist das gelungen.