Società | Jugendarbeit

"Jugendliche brauchen Freiräume"

Klaus Farin, Gründer des Archivs der Jugendkulturen in Berlin, im Gespräch über Jugendkultur heute, Fachkräftemangel und Zukunftsperspektiven.
Avvertenza: Questo contributo rispecchia l’opinione personale del partner e non necessariamente quella della redazione di SALTO.
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Foto: Philip Unterholzner

Klaus Farin ist Aktivist und Journalist und gründete 1998 das Archiv der Jugendkulturen in Berlin. Vor einem Jahr, im Januar 2019, bekam er für seine jahrzehntelange Arbeit mit Jugendlichen das deutsche Bundesverdienstkreuz und seit über 30 Jahren ist er auch in Südtirol Referent bei Workshops für die Jugendarbeit. Am vergangenen 13. Februar traf sich Klaus Farin im Jugendzentrum Fly in Leifers mit den südtiroler Jugendarbeitern bei der „Plattform“, einem Netzwerktreffen organisiert vom netz | Offene Jugendarbeit, zu einem Austausch über die modernen Ausdrucksformen der Jugendkultur.

Herr Farin, wie haben Internet und soziale Medien die Jugendkultur und die Jugendarbeit verändert?

Klaus Farin: Natürlich haben Social Media, das Internet und Smartphones unser aller Leben radikal verändert und damit auch die Jugendarbeit. Früher musste man Orte aufsuchen, um Menschen zu treffen. Heute kann man sich online verabreden und sich dann irgendwo treffen, zum Beispiel auch im Jugendzentrum. Das heißt auch: Jugendliche sind heute schwerer greifbar, wenn sie nicht mehr ins Jugendzentrum kommen. Aber die neuen Technologien haben auch positive Auswirkungen, denn das Internet ist ein inklusives Medium. Wenn sich also ein Jugendlicher in einem kleinen Dorf leidenschaftlich für eine Jugendkultur oder für eine bestimmte Musikrichtung interessiert, hätte er früher keine Ansprechpartner gehabt; heute aber kann er durch das Internet teilhaben an einer weltweiten Jugendkultur und bekommt alle Informationen über Treffen von Gleichgesinnten außerhalb seines Dorfes.

Das heißt die Kommunikation und Mobilität unter Jugendlichen hat zugenommen?

Erwachsene meinen oft, dass die Jugendlichen sich digital isolieren und sich nicht mehr austauschen wie früher. Dabei kommunizieren Jugendliche im Internet sehr viel und tauschen sich über alle möglichen Themen aus, sprechen vielleicht sogar freier als früher. Und das Internet ermöglicht den Jugendlichen sich zu gruppieren und zu organisieren. Ein aktuelles Beispiel ist die Fridays for Future Bewegung. Im Internet finden spannende Diskussionen statt und bei allen Nachteilen sind Social Media trotzdem auch eine Riesenchance für die öffentlichkeitswirksame Kommunikation.

Das Internet ermöglicht den Jugendlichen sich zu gruppieren und zu organisieren

Sind Social Media auch eine Chance für die Jugendarbeit, um die Jugendlichen zu erreichen?

Soziale Medien sind ganz sicher eine Chance und ein Muss für die Jugendarbeit. Wer Jugendliche erreichen will, muss auf diesen Kanälen präsent sein. Die sozialen Medien sind ein zentraler Bereich jugendlicher Lebenswelten, die den Jugendarbeitern offensteht. Die Jugendarbeit muss wissen, wo Jugendliche sich bewegen, wie sie sich bewegen und welche Themen sie interessieren. Vieles davon passiert eben über Social Media und wenn ich als Jugendarbeiter selber nicht präsent bin, entgeht mir ein ganzer Lebensbereich der jungen Leute.

Wie hat sich die Jugendkultur verändert?

Die Welt ist insgesamt toleranter und bunter geworden, d.h. die Unterschiede zur Erwachsenenkultur sind weniger offensichtlich, aber die Jugendkultur gibt es sehr wohl noch. Die heutige Elterngeneration ist inzwischen die, die früher auf Techno-Raves ging. Das Problem ist: es wird heute so gut wie alles toleriert, und trotzdem fehlen zunehmend die Freiräume für Jugendliche. In Deutschland, genauso wie in anderen Ländern, werden Jugendliche immer mehr aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Immer mehr Orte des öffentlichen Raums werden rein kommerziell definiert und man darf sich dort nur aufhalten wenn man Geld ausgibt.

Immer mehr Orte des öffentlichen Raums werden rein kommerziell definiert und man darf sich dort nur aufhalten wenn man Geld ausgibt.

Sind Jugendliche heute zu angepasst?
Jugendliche sind heute sicherlich braver als früher, aber Jugendliche wachsen ja nicht in einem Vakuum auf, sondern in einer von Erwachsenen dominierten Welt. Was stimmt, ist dass die Jugendkultur immer weniger sichtbar wird. Das führt letztendlich auch dazu, dass Städte immer mehr veröden und nicht mehr so spannend sind für andere junge Leute. Der Arbeitsmarkt braucht aber dringend Facharbeiter und wenn in den Städten keine Jugendkultur präsent ist, wird die Stadt langweilig und noch mehr junge Leute wandern ab. Unsere Gesellschaft ist immer mehr auf Leistung fixiert und die zentrale Maßgabe an Jugendliche lautet: Pass dich an, sei unauffällig, produziere und konsumiere. In der neoliberalen Gesellschaft zählt nur das, was einen Nutzen oder materiellen Wert hat. Das was keinen Wert oder Nutzen produziert, wird als müßige Zeitverschwendung gesehen. Wenn dann die Erwachsenen die Freiräume von Jugendlichen immer weiter einschränken, darf man sich nicht wundern, wenn die Jugendkultur immer weniger sichtbar ist.

 

Wenn die heutigen Eltern toleranter sind, weil sie selbst schon eine „wilde Generation“ waren, gibt es dann für die heutigen Jugendlichen überhaupt noch genug Reibungsfläche?

Reibungsfläche ergibt sich ja nicht nur durch spießige Kleidung oder Musikgeschmack der Eltern. Da gibt's schon noch genug anderes, wogegen die Jugendlichen rebellieren können. An den Fridays for Future sieht man, wie sich die jungen Leute gegen die Politik und die Wirtschaft der Erwachsenen stemmen, weil diese die Zukunft der Jugendlichen riskieren und zerstören. Solche Jugendbewegungen werden in Zukunft immer größer und aktiver werden, denn die Erwachsenengeneration geht kein bisschen auf die berechtigten Ziele und Forderungen der Jugendlichen ein. Die Frage ist: werden die Jugendlichen aufgeben und sagen „das bringt sowieso nichts“ oder werden sie durch den Schwung der öffentlichen Aufmerksamkeit dazu bewogen, sich noch intensiver und noch radikaler zu engagieren? Damit die Gesellschaft sich verändern kann, müssen die Erwachsenen den Jugendlichen irgendwann entgegenkommen.

Unsere Gesellschaft ist immer mehr auf Leistung fixiert und die zentrale Maßgabe an Jugendliche lautet: Pass dich an, sei unauffällig, produziere und konsumiere.

Sie haben das Thema Fachkräftemangel angesprochen, das ist hier in Südtirol ebenfalls ein großes Problem. Welchen Beitrag kann die Arbeit mit Jugendlichen leisten, um die Abwanderung zu bremsen?

Sicher ist, es reicht nicht ein paar nette Großevents zu machen, um Jugendliche ans Territorium zu binden. Bei der Entscheidung irgendwo hinzuziehen, bzw. irgendwo zu bleiben, gibt es harte Faktoren und weiche Faktoren. Die harten Faktoren sind Fragen wie: Was für Arbeit gibt es, ist sie gut bezahlt? Gibt es Jobs, die Spaß machen, die interessant sind? Gibt es bezahlbaren Wohnraum? Aber zur Entscheidung wo man leben möchte gehören auch weiche Faktoren, wie die Frage: gibt es attraktive Angebote für Kinder und Jugendliche? Das spielt eine Rolle, auch wenn man selbst noch gar keine Kinder hat. Es ist eine wichtige Zukunftsperspektive. Was viele Städte mit Fachkräftemangel noch nicht auf dem Schirm haben ist, dass sich die Leute bevor sie irgendwo hinziehen auch über die Jugendkultur informieren, nicht nur über das städtische Theater und die klassische Kultur. Sie informieren sich, ob sich eventuelle Kinder in der Stadt wohlfühlen würden. Das ist auch ein entscheidender Faktor für die sogenannten Wiederkehrer, also für Jugendliche, die aus einer ländlichen Gegend abwandern und später wieder dorthin zurückkommen. Die Fragen sich: „Hab ich mich als Jugendlicher dort überhaupt wohlgehfühlt? Hatte ich das Gefühl willkommen zu sein und mich ausleben zu dürfen?“

Frust, Politikmüdigkeit, Rechtspopulismus usw. entstehen bei Jugendlichen auch aus dem Gefühl heraus: „Ich habe keinen Einfluss auf meine Umwelt. Ich bin nicht gefragt. Keiner legt Wert auf meine Meinung.“

Sie sagten, für die Jugendarbeit ist es wichtig, dass die Jugendlichen mit eingebunden werden in die Städte. Wie könnte das konkret aussehen?  

Die Jugendlichen und die Freiräume für Jugendliche sollten das Stadtbild mitgestalten dürfen. Es gibt Programme für Jugendarbeit in deutschen Kleinstädten, wo den Jugendlichen ganze Hauswände auf öffentlichen Plätzen oder sogar Busse der öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung gestellt werden, um sie zu bemalen. Das Stadtbild wird dadurch sicher bunter und die Jugendlichen fühlen sich willkommen und eingebunden. Denn Frust, Politikmüdigkeit, Rechtspopulismus usw. entstehen bei Jugendlichen auch aus dem Gefühl heraus: „Ich habe keinen Einfluss auf meine Umwelt. Ich bin nicht gefragt. Keiner legt Wert auf meine Meinung.“ Daraus entstehen oft Trotzreaktionen, die kontraproduktiv sind. Man muss den jungen Menschen ermöglichen sich einzubringen und ihre Lebenswelt zu beeinflussen, ihnen zeigen, dass ihre Stimme zählt. Jugendliche sollten so oft wie möglich beteiligt und gefragt werden und die Möglichkeit bekommen, in der eigenen Stadt Präsenz zu zeigen. Sie sollten zeigen dürfen: „Wir sind hier, wir leben auch in dieser Stadt.“

Hier in Südtirol sind sehr viele Jugendliche bereits in einem oder mehreren Vereinen. Hat hier die Jugendarbeit trotzdem eine Chance etwas weiterzubringen?

Ja, denn das Zeitbudget von Jugendlichen wird immer enger, manche jungen Leute haben schon einen Terminkalender wie ein Abgeordneter. Umso mehr brauchen Jugendliche auch einen Freiraum, wo sie nichts sportliches, musikalisches oder sonst etwas leisten müssen. Einen Ort wo sie einfach nur zusammen sein, sich austauschen und entspannen können. Das kulturelle Engagement rund um die Jugendarbeit garantiert Vielfalt, sodass man zum Beispiel sowohl in der Gemeindekapelle als auch in der Metal-Band spielen kann. Das ehrenamtliche Engagement im Verein ist sehr wichtig und positiv für die Jugendlichen, aber oft auch sehr hierarchisch aufgebaut. Das heißt die Jugendlichen dürfen sich zwar engagieren, aber das Sagen haben meistens ältere Männer, die entscheiden, wo genau die Jugendlichen sich engagieren dürfen. Genau deshalb braucht es auch die Offene Jugendarbeit, wo eine andere Mentalität herrscht.

{Interview/Text: Lucia de Paulis}

 

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Karl Trojer Lun, 02/24/2020 - 11:22

Den Jugendlichen steht Respekt und Wertschätzung seitens der älteren Generationen zu !
Ich erlebe die heutigen Jugendlichen als am Gemeinwohl interessiert, zum Handeln bereit und fähiger Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden, als vorausgehende Generationen dies vermochten.
Weiter so und nit lugg lossn !

Lun, 02/24/2020 - 11:22 Collegamento permanente