Cultura | Salto-Gespräch

„Wut weckt den Kampfgeist“

Sabine Gruber und Maxi Obexer über vierzig Jahre Südtiroler Autorinnen und Autorenvereinigung, Südtirols Literatur und den Kampf um eine weibliche Autorschaft.
Gruber/Obexer
Foto: Eickhoff/Obexer
Maxi Obexer: Wie beschreibst du die Zeit, als Du Dich der Südtiroler Autorenvereinigung angeschlossen hast? Welche politische, gesellschaftliche und literarische Notwendigkeit gab es für dich? Welche Bedeutung hatte sie für eine angehende Autorin? 
 
Sabine Gruber: Ich wusste als schreibende und Literatur lesende Gymnasialschülerin von der Existenz der SAV, hätte aber damals nicht den Mut gehabt, mich ohne Einladung zu einer  Sitzung zu begeben. Ich bin über Renate Mumelter zur SAV gekommen. Sie hatte 1983 nach schreibenden Frauen in Südtirol Ausschau gehalten und ein Treffen von Schriftstellerinnen und Dichterinnen in der Gummer-Bar in Bozen organisiert. Mit Gleichgesinnten aus unterschiedlichen Altersgruppen und Lebenszusammenhängen zusammenzutreffen, war für mich als Zwanzigjährige prägend.In der Gummer-Bar bin ich übrigens auch das erste Mal Anita Pichler begegnet. Wir waren in dieser ersten, von Renate Mumelter organisierten Runde, übrigens Deutschsprachige und Italienerinnen, auch in den „sturzflügen“ waren Texte in beiden Sprachen abgedruckt, was für die damalige Zeit, in den „Apartheitsjahren“ der SVP, nicht selbstverständlich war.
1984 erschien dann, zusammengestellt von Renate Mumelter, in den „sturzflügen“  „ein puzzle in fortsetzungen“ – ein Literaturteil mit Texten von Frauen. Es gab bis dahin fast keine Einzelveröffentlichungen von Frauen in Zeitschriften, schon gar keine Buchpublikationen. In der Anthologie „Neue Literatur aus Südtirol“, die Gerhard Mumelter 1970 herausgegeben hatte, waren Texte von 23 Männern und einer Frau (von Margherita Mairhofer-Zander) abgedruckt. 13 Jahre später, in der darauffolgenden Anthologie Südtiroler Literatur, waren es gerade Mal 4 Frauen.
 
Obexer: Gab es unter deinen literarischen Vorbildern auch Autorinnen und Autoren aus Südtirol?
 
Gruber: Was ich bis dahin von Südtiroler Dichterinnen gekannt hatte, war sehr „heimatverbunden“ gewesen. Diese konventionellen Schreibweisen lehnte ich aufgrund ausgiebiger Lektüreerfahrungen schon in den Oberschuljahren ab. Ich hatte durch unseren schulexternen Literaturkreis im Gasthaus Roter Adler in Meran schon mit 15 Jandl, Mayröcker, Rühmkorf und in der Folge auch die Gedichte von Kaser kennengelernt. Alles, was mit Blut und Boden, mit Geranien und im Abendrot glühenden Berggipfeln zu tun hatte, widerstrebte mir zutiefst. Tumlers „Volterra Wie entsteht Prosa“ gehörte damals, in den späten 1970er Jahren, zu meinen Lieblingsbüchern.
Wer hauptberuflich als Schriftstellerin arbeitet, lebt öffentlich.
Maxi Obexer
Obexer: Wegzugehen schien wie selbstverständlich, und ist es auch heute noch. Doch es war oft grundsätzlicher, entgültiger, so scheint mir, und sicher nicht nur als Studienaufenthalt gedacht. Heute schieben sich die Länder mehr ineinander, das Unterwegssein und das Leben an mehreren Orten ist längst nicht nur für KünstlerInnen zur Lebensrealität geworden. (Vor der Pandemie zumindest.)
So oder so aber war der Import der politischen Forderungen, der Debatten und der Bewegungen nach Südtirol immer schon sehr wichtig für eine allmähliche Veränderung der gesellschafltichen Situation. Ein Zusammenwirken von Frauen vor Ort und solchen, die woanders waren, war und ist noch heute essentiell.
 
 
Hervorzuheben ist die Arbeit von Georg Engl, der viele Jahre die Redaktion der „sturzflüge“ und die Koordination der SAV geleitet hat.
Sabine Gruber
 
Wie hast du das erfahren? Woher kamen die Impulse?
 
Gruber: Einige der schreibenden Frauen lebten außerhalb Südtirols, die meisten studierten oder hatten schon ein Studium abgeschlossen. Diesen Aufbruch muss man auch in dem entsprechenden sozialen Kontext sehen: Das veränderte Selbstverständnis der Frauen kann nicht ohne die Frauenbewegung gedacht werden – und diese ist wiederum aus der Studentenbewegung hervorgegangen. Südtirol hatte aufgrund einer fehlenden Uni keine studentische Protestbewegung, die modernen künstlerischen, emanzipierten, gesellschaftskritischen Positionen kamen im Wesentlichen von außen oder aus der italienischen Community – so auch die Ideen und Forderungen der Frauenbewegung (wir hatten beispielsweise über die SH/Südtiroler HochschülerInnenschaft Kontakt zu Andreina Emeri oder Lidia Menapace). Mit „außen“ meine ich auch den Import feministischer Tendenzen durch die Italienerinnen, die an italienischen Unis studierten. Die Italienerinnen waren aufgrund des höheren Bildungsstands in den Städten früher an den Unis und früher organisiert als die deutschsprachigen Südtirolerinnen, weshalb die erste Beratungsstelle AIED (Associazione italiana educazione demografica, 1971/72 entstanden) und auch das „Centro documentazione donna“ in Bozen auf die Initiative von Italienerinnen zurückzuführen waren.
Es fehlte auf dem Land mehr als in der Stadt an einer feministischen, emanzipatorischen Basis, vor allem unter den Deutschsprachigen, was auch die Retardierung der Literatur von Südtiroler Frauen erklärt.
Südtirol war lange ein hauptsächlich agrarwirtschaftlich ausgerichtetes Land. Da blieb für Frauen, zumal auf dem Land, wo Kirche und Tradition noch eine weitaus größere Rolle spielten als in den Städten, wenig Spielraum. Kunstproduktion ist meist an einen höheren Bildungsweg geknüpft.
 
Obexer: Welche Startbedingungen hattest du oder musstest du überwinden?
 
Gruber: Ich bin väterlicherseits und mütterlicherseits die erste Akademikerin in der Familie. Ich bin die erste Generation, der es überhaupt möglich gewesen war zu studieren. Dass es leistbar geworden war, war eine Folge der österreichischen, sozialdemokratischen Bildungspolitik, deren Ziel und Wunsch es war, dass auch Arbeiterkindern oder Töchtern und Söhnen aus nicht-akademischen, nicht-wohlhabenden, nicht-bürgerlichen Familien der Zugang zur Universität geöffnet wird. Ich war als Germanistik-, Geschichte- und Politikwissenschaftsstudentin in Innsbruck - und später Wien - den Österreicherinnen gleichgestellt und war damit studiengebührenbefreit. Ohne diese „Befreiung“ und ohne das Geld der Sommerjobs als Fabrikarbeiterin, Zimmermädchen, Küchengehilfin, Putzfrau und Altenpflegerin hätte ich nie studieren können. Mein Vater war Schriftsetzer gewesen, meine Mutter Hausfrau; sie hatten ein Haus gebaut und waren damals verschuldet.
 
 
Obexer: Du bist eine im gesamten deutschen Sprachraum wichtige und geschätzte Stimme als Autorin. Wie hast du begonnen?
 
Gruber: Ich hatte schon zu Oberschulzeiten in der Schülerzeitung Gedichte publiziert, erhielt im Alter von 18 Jahren einen ersten Lyrikpreis, 1985, als ich bereits in Innsbruck studierte, den RAI-Kurzgeschichten-Preis und war als Finalistin zu einem Lyrik-Wettbewerb nach Regensburg eingeladen gewesen. Diese Anerkennungen waren eine gewisse Bestätigung, sie machten mir Mut weiterzuschreiben. Allerdings merkte ich sehr schnell, dass ich in einen Bereich vorgedrungen war, in dem Frauen eher die Ausnahme waren. Ich erfuhr beispielsweise während meiner Studienzeit am Germanistik-Institut in Innsbruck von meinen Südtiroler Schriftstellerkollegen, dass man über das Landeskulturamt in Innsbruck um ein Literaturstipendium ansuchen könne. Doch mein Treffen mit dem zuständigen Politiker oder Beamten – ich kann mich an die genaue Funktion von Dr. Fritz Prior nicht mehr erinnern – verlief desaströs. Während meine männlichen Dichterfreunde problemlos ihr Geld bekamen, fragte mich der Beamte lediglich, was ich denn so machte. Ich erklärte ihm, dass ich in Innsbruck Germanistik studierte und außerdem schriebe. Der Mann warf mich samt Ansuchen mit der Bemerkung „Dann werden Sie eh Lehrerin und haben ein regelmäßiges Einkommen und viel Zeit zum Schreiben.“ aus seinem Büro.
Dass ich diesen Satz bis heute nicht vergessen habe, zeigt, wie demütigend ich ihn empfunden habe. Auch mein Großvater väterlicherseits, immerhin viele Jahre Bürgermeister von Lana, fand mein Studium „sinnlos“, weil Frauen sowieso heirateten und verweigerte mir jede Unterstützung. Meinen Artikel in der ff zum Thema „Wehrmachtsausstellung“ Jahre danach kommentierte er mit den Worten, ich solle nicht über eine Zeit schreiben, die ich nicht selbst erlebt hätte. Zu meiner schriftstellerischen Laufbahn sagte er nichts.
Die Widerstände gegen Frauen, die sich in Männerdomänen vorarbeiteten, waren damals ständig zu spüren. In mir weckte die Wut darüber den Kampfgeist.
 
Der Mann warf mich samt Ansuchen mit der Bemerkung „Dann werden Sie eh Lehrerin und haben ein regelmäßiges Einkommen und viel Zeit zum Schreiben.“ aus seinem Büro.
Sabine Gruber
 
Obexer: „Enemies are shaping you“, den Satz finde ich sehr wahr. Ein Kampfgeist schärft und formt ja auch das literarische Schaffen!
Ein Großteil einer innovativen Literatur und Poetik, wie sie sehr oft von Autorinnen geschrieben wird, hat mit der Erfahrung von Ungleichheit auf allen Ebenen zu tun, die sich ja auch in den Inhalten, den Stoffen und in den Narrativen manifestieren. Wer also von literarischer Tradition spricht, müsste die Tradition des Widerstands mitdenken, die ja insgesamt und europaweit prägend war für die Literatur und das Theater der Nachkriegsjahre.
Meiner Wahrnehmung nach war es in Südtirol neben einzelnen AkteurInnen hauptsächlich die SAV, die damals diesen Geist aufgenommen und eingeführt hat.
 
Wie kann ich mir die allgemeine Literaturszene in diesen Jahren vorstellen?
 
Gruber:  Für mich boten der Verein der Bücherwürmer in Lana, in dem ich schon zu Oberschulzeiten mitgearbeitet hatte, aber auch die SAV eine Zeit lang ein Refugium, einen Ort des Austauschs und der Bestärkung. Gleichzeitig versuchten Literaturliebhaber wie der Geistliche Alfred Gruber, der fraglos vieles für die Südtiroler Literatur getan hat, mich sofort, nachdem ich erste Preise bekommen hatte, zu vereinnahmen. Ich hatte damals bewußt einen anderen Weg gewählt,  publizierte im „Skolast“, in den „sturzflügen“, dem „Gaismair-Kalender“, der Lanaer Dorfzeitung „maulauf“, die aus dem linken „Jugendkollektiv Lana“ hervorgegangen war, später im Wiener „wespennest“ und in der Grazer Literaturzeitschrift „Manuskripte“. Ich gehörte nie zu den „Jüngerinnen“ von Alfred Gruber, hatte auch nie an den von ihm ins Leben gerufenen Literaturwettbewerben teilgenommen, erst recht nicht für den Rubatscher-Preis eingereicht, weil die Namensgeberin dem Nationalsozialismus nahegestanden hatte. Von den NS-Verstrickungen Franz Tumlers hatte ich übrigens erst in Wien Kenntnis erlangt, in Südtirol war darüber lange geschwiegen worden. Aber im Gegensatz zu Rubatscher war Tumler nach 1945 immerhin ein hochmoderner Autor geworden, der sich formalästhetisch von dem NS-Erzählduktus völlig entfernt hatte.
 
Obexer: Mich hat Tumler aufgrund dieser NS-Vergangenheit ganz offen gestanden nicht interessiert, andererseits gab es ja schon allein durch mein Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft haufenweise andere AutorInnen zu lesen.
Natürlich gab es im Dorf niemanden, der irgendein Talent an mir bemerkt hätte.
Maxi Obexer
Zu dir zurück. Wie hast du deine finanzielle Existenz als Autorin gesichert?
 
Gruber: Aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen war es mir lange nicht möglich gewesen, meinen Beruf frei auszuüben. Nach dem Studium unterrichtete ich bis 1992 vier Jahre an der Universität Venedig, dann mehrere Jahre Deutsch als Fremdsprache in Wien und anschließend arbeitete ich bis 2000 im Wiener Büro der Grazer Autorinnen Autorenversammlung. Ich war also 37 als ich - mental unterstützt von meinem damaligen Lebensgefährten, dem bildenden Künstler Karl-Heinz Ströhle – den Sprung in die unabgesicherte Freiberuflichkeit wagte. Anita Pichler hatte ebenfalls lange an der Universität unterrichtet und erst die letzten Lebensjahre als freie Schriftstellerin gelebt, davor gab es meines Wissens keine freiberuflichen Dichterinnen und Schriftstellerinnen in Südtirol. Pichler und ich profitierten von den österreichischen, deutschen und schweizerischen Stipendien und Stadtschreiberstellen, konnten uns nur mit Hilfe regelmäßiger ausländischer Unterstützungen über Wasser halten.
Die Beihilfen aus Südtirol waren erst gar nicht, dann spärlich vorhanden gewesen, die Ansuchen sind bis heute mit einem erheblichen bürokratischen Aufwand verbunden.
Die GAV und SAV, aber auch die Interessensgemeinschaft Österreichischer AutorInnen interessierten mich mit zunehmendem Alter nicht mehr so sehr als Austauschorte, sondern vor allem als Orte gewerkschaftlichen Zusammenhalts. Im Laufe der Jahre wurde in Österreich eine Künstlersozialversicherung ins Leben gerufen, Stipendien blieben – unter dem österreichischen Bundeskanzler Klima hart erkämpft – steuerfrei. Es wurden Mindesthonorarsätze und soziale Absicherungen gefordert.  Heute bin ich zwar in keiner Autoren-/Autorinnenvereinigung mehr aktiv tätig, vertrete aber in der österreichischen Verwertungsgesellschaft für Literatur die „Literarischen UrheberInnen“.
 
Wann hast du mit dem Schreiben begonnen und es als Notwendigkeit begriffen?
 
Obexer: Ich wusste mit dreizehn, dass ich schreiben will, (weiß sogar noch genau den Ort und den Moment, als ich das beschloss.) Die ersten Texte waren vom Aufsatzschreiben geprägt, ich liebte es. Eine sehr starke Sehnsucht drängte mich, das, was mich umgab, zu Wort kommen zu lassen, zur Sprache zu bringen, durch die Sprachlosigkeit zu brechen und mich – und uns alle zum Sprechen zu bringen. Neben den mir selbst gestellten Aufsätzen schilderte ich Landschaften, schrieb Szenerien und Dialoge, dann Theaterstücke. Die gesprochene, adressierte Sprache, die Anwesenheit von anderen, das Hier und Jetzt, das schien unbewusst schon sehr entscheidend.
 
Gruber: Wie war Deine familiäre Situation?
 
Obexer: Die Verhältnisse meiner Herkunft (Feldthurns) waren nicht wesentlich anders als bei dir, obwohl uns etwa eine halbe Generation trennt. Ich war in der Verwandtschaft mütter- wie väterlicherseits die erste, die Matura machte, die studierte, und das auch noch am elitären Peter-Szondi-Institut in Berlin, wo fast alle Studierenden Kinder von Professoren waren. Und die in der bürgerlichen Welt des Theaters landete, auch hier ohne vorher zu wissen, wie zutiefst bürgerlich diese Welten waren. Und natürlich hatte ich den Anspruch, von meinem Schreiben zu leben. Auch hier ohne zu wissen, dass es maximal die zweite Generation von Frauen war, die das wagte.  Geschenkt die Vorstellung, wie sehr die Strukturen von Männern und für männliche Autoren gedacht waren. Es waren lauter blinde Eintritte in andere Schichten, Klassen und Systeme. Mit Berlin ließ ich dann noch die katholisch geprägte Herkunft mit einer preußisch protestantischen Prägung zusammenprallen.
 
Gruber: Und mit welchen Hürden hattest du zu kämpfen?
 
Die vielen unsichtbaren Hürden, über die ich stolperte, begriff ich jeweils beim Stolpern. Im Wesentlichen hatten die sicher damit zu tun, dass ich eine Frau bin, dass ich nicht aus einer bürgerlichen Welt komme, also ganz ähnlich wie bei dir.
Das Leben in Deutschland musste ich fortwährend kennenlernen, während ich es zugleich als Autorin in exponierter Lage schon bewohnte. Berlin ist zwar sehr offen, aber jede Gesellschaft hat ihre eigene dichte Geschichte und Gegenwart.
Natürlich gab es im Dorf niemanden, der irgendein Talent an mir bemerkt hätte.  Vom ersten Zeugnis in der Volksschule bis zur fünften Klasse wurde stets der eine Satz über mich abgeschrieben: „Vorlaut und rege.“ Das war negativ gemeint. Eine Art stille Übereinkunft aber gab es mit meinem Vater, mit dem ich oft in der Tür zur Bibliothek in Brixen zusammentraf, beide mit einem Stapel Bücher im Arm. Für beide war das Lesen ein kleines Versteck, für ihn in der Arbeit, für mich in der Schule. Es sind im Grunde die stillen, aber stabilen Brücken in die anderen Welten.
Ich kann mich nur schwer unterordnen.
Sabine Gruber
Gruber: Gab es so etwas wie das Selbstverständnis einer freischaffenden Autorin oder Künstlerin?
 
Obexer: Improvisation und Freiheitsdrang trugen mich nach Bozen, wo ich die restlichen Oberschuljahre absolvierte. Es war ein sehr wichtiger erster, selbst getaner Schritt, der mich mit jungen Lehrerinnen zusammenführte. Sie waren die ersten Botinnen eines kritischen, feministischen Geistes, coole Frauen, die mich extrem ansprachen und die mich auch unterstützten.
Danach war alles aufs Weggehen und aufs Ausland gerichtet, erst London (wo ich für den Unterhalt so viel arbeiten musste, dass ich nicht studieren konnte), dann Wien, dann Berlin. Dort startete ich meine literarische Laufbahn, und der Einstieg ging schnell. Mit dem ersten größeren Theaterstück wurde ich Stipendiatin im Literarischen Colloquium Berlin, dann an der Akademie der Künste Berlin, dann kam die Akademie Solitude hinzu usw. Ein Theaterverlag bot sich sofort an, auch der WDR, bei dem ich nach wie vor meine Hörspiele schreibe. Nach dem Studium lebte ich ad hoc vom Schreiben. Inzwischen habe ich an die zwanzig Stücke geschrieben, die an über vierzig Theaterhäusern gespielt wurden.
Ich war lange sehr mit dem Theater verbunden, bin es noch immer, dem zugleich feudalsten, hierarchischsten und frauenfeindlichsten Betrieb. Und ich suchte den literarischen Ausdruck in allem, auch mit bildenden KünstlerInnen, mit MusikerInnen, in der Prosa, im Essay und in der Theorie und Wissenschaft.  Aber im Theater hatte ich sicher die intensivsten Höhenflüge. Neben manchen Demütigungen. Es gab allerdings und gibt es immer noch: die Freundinnen und Freunde, mit denen ich eine tiefe künstlerische-politische Leidenschaft für die Möglichkeiten der Veränderung teile. Theaterhäuser performieren oft beides: sie formulieren den radikalen Wandel und verhindern ihn stoisch.
 
 
 
Gruber: Die Frauenfeindlichkeit in der Theaterwelt war für mich ein Grund, das Genre weitestgehend zu vermeiden. Auch die Frage, die ich mir Anfang der 1990er Jahre in Venedig gestellt hatte, ob ich in erster Linie eine literaturwissenschaftliche Laufbahn an der Uni anstreben oder es gleich als freie Schriftstellerin versuchen sollte, beantwortete ich zugunsten des freien Schreibens, weil mir klar geworden war, dass die universitären Bereiche sehr hierarchisch strukturiert waren. Ich kann mich nur schwer unterordnen. Dass Du Dich der Theaterwelt ausgesetzt hast, hab ich damals mit bewunderndem Erstaunen verfolgt.
 
Obexer: Natürlich dachte ich, dass sich mit mir und mit meiner Generation alles ändern würde. Aber es zeigten sich wenigstens die Gräben mit aller Deutlichkeit.
Eine für mich sehr prägende Erkenntnis war, dass für manche, und diese sind durchgehend weiß und männlich, die Welt so stimmt, wie sie eingerichtet ist. Für mich hat die Welt so nie gestimmt, und das ist ein wesentlicher Grund meines Schreibens.
Und dann gab es noch die Erkenntnis, dass du als Autorin in dem Augenblick, wo du politisch wirst, Widerstand erfährst; du wirst gerne geliebt und gefördert, solange du in schönen poetischen Bildern über die Liebe schreibst. Sobald du den Anspruch erhebst, die politische Debatte mitzubestimmen, zeigt sich Widerstand. An der Stelle beginnt also ein neuer Kampf. Der nötig ist. Er schärft dich, deine Gedanken, du weißt umso besser, was zu tun ist, und dass es wichtig ist.  Die Verhältnisse, die Widerstände haben dich, haben mich geprägt und geformt. Alles was du schreibst, ist wichtig, hat Relevanz, du schreibst über die Wirklichkeiten von Frauen, schreibst damit fortwährend an einer bisher unsichtbaren Geschichte.
 
Gruber: Wie schaust du heute, als anerkannte Autorin, die sich nicht nur in der Theaterwelt einen Namen gemacht hat, auf diesen Weg?
 
Obexer: Ich sehe es als ein Privileg, dass ich als Künstlerin und Autorin leben und arbeiten kann. Und es tut mir für dieses erkenntnisbegierige Mädchen leid, dass es immer wieder auf Männer in Machtpositionen traf, die glaubten, sie erpressen, über sie zu bestimmen, sie beurteilen und über sie richten zu können.
 
Gruber: Wir sind privilegiert in Hinblick auf die meisten Schriftstellerinnen vor uns, die noch zu Zeiten lebten, als ein sexuell selbstbestimmtes Leben ohne Rollenzwang mit politisch-gesellschaftlicher Mitbestimmung und eigenem Einkommen nicht möglich war. Analysiere ich heute die Curricula von Kolleginnen und Kollegen meines Alters, sehe ich noch immer schichtenbezogene eklatante Unterschiede, die sich im literarischen Selbstverständnis aber vor allem im Umgang mit der Öffentlichkeit spiegeln. Manche schaffen es, sich vom Milieu ihrer kleinbürgerlichen, ärmlichen Herkunft zu befreien, sie gehen wie Didier Eribon in Rückkehr nach Reims ihren Weg, andere stolpern ein Leben lang von Zweifeln geplagt über sich selbst. Ich glaube zum Beispiel nicht an den Individualismus und die Chancengleichheit, denn Bildungsvorsprung und ökonomische Besserstellung lassen sich nur in Ausnahmefällen „aufholen“.
 
Obexer: Das glaube ich inzwischen auch. Aber welche Umwege die Literatur bisweilen machen muss, bis sie sich endlich durchsetzt und die Augen öffnet. Die Bedeutung der sozialen Herkunft wurde in Deutschland erst mit Didier Eribon, also einem in Frankreich lebenden Autor, radikal neu gestellt. Also nicht etwa über eine in Deutschland lebende türkische oder polnische Autorin beispielsweise. Und er, der die grundlegenden Erkenntnisse seines Buchs auf das Werk von Annie Ernaux zurückführt, bewirkt, dass sie endlich auch ins Deutsche übersetzt wird. Ernaux hatte mit ihren Büchern bereits in den 70er Jahren die soziale Herkunft radikal ins Zentrum gerückt, und sie hat dafür eine eigene literarische Form geschaffen. Die deutschsprachige Literatur der 80er, 90erJahre wäre eine andere, hätten wir damals schon Annie Ernaux gelesen.
 
Gruber: Ich hatte mich bisher nicht mit der Rezeptionsgeschichte der Bücher von Ernaux befaßt, das ist ein äußerst interessanter Hinweis, den du gibst, und er zeigt wieder einmal, wieviele Umwege Frauen gehen müssen, um an das gleiche Ziel zu gelangen.
 
Obexer: Erschreckend daran ist, wie viele grundsätzlich neue und wichtigen Ansätze von KünstlerInnen im Sand verliefen oder erst dann wahrgenommen wurden, wenn sie von einem männlichen Künstler oder Theoretiker übernommen wurden. Meist natürlich, ohne deren Urheberinnen zu nennen.
 
 
Auch in deinen Büchern spielt die soziale Herkunft eine Rolle, wie bist du vorgegangen?
 
Gruber: Sozialisation ist fraglos prägend. Ich habe als Schreibende oftmals Figuren erfunden, welche die „Perspektive von unten“ einnehmen, habe versucht, jenen – vor allem Frauen - eine Stimme zu geben, deren Kulturleistungen geringgeschätzt wurden, hab nach ästhetischen Verfahren gesucht, welche die überlieferten Literaturkonzepte in Frage stellen oder konterkarieren. Arbeitete ich als junge, 20-jährige Schriftstellerin noch sozial engagiert und sprachlich intuitiv, rückte mit zunehmender Lektüre- und Schreib-Erfahrung die Form in den Mittelpunkt. In den 80er Jahren orientierte ich mich auch stark an der anglo-amerikanischen und französischen Frauenbewegung, an der écriture féminine von Luce Irigaray, Julia Kristeva und Hélène Cixous. Das waren notwendige Prozesse, in denen ich lernte, stillschweigende Denkkonventionen zu analysieren, nach dem spezifisch Weiblichen zu fragen, das bei den zeitgenössischen Philosophen noch als Mangel und Defizit definiert wurde. Prendre la parole war die Losung der Französinnen, nach dem Wort, das auch Macht bedeutet, greifen!
Ich halte die Literatur von Frauen, welche sich vom Selbsterfahrungs- und Befindlichkeitsduktus befreit und diesen notwendigen Bewusstwerdungsprozess hinter sich gebracht haben, meist für spannender als die Literatur von Kollegen, die fraglos – auch und vor allem in Südtirol - auf eine männliche Literaturtradition zurückgreifen oder darauf reagieren konnten. Die „Brixner Rede“ (N.C. Kaser) ist der Text eines Mannes, der auf eine durch und durch männliche Literaturtradition reagiert.
 
Obexer: Ich finde den Hype auf N.C. Kaser, der ein paar Gedichte verfasst hat und sich dann im Suff ertränkt hat, reichlich überzogen und frage mich ernsthaft, womit das zu tun hat. Literarisch hat er für mich keine Rolle gespielt, und ich frage mich, für wen er das hat.
 
Gruber: Kasers Texte sind eine Zäsur in der Südtiroler Literatur, er selbst taugt schon deshalb zum Mythos, weil er zu Lebzeiten kein einziges Buch veröffentlicht hat. Seine Gedichte und Kurzprosatexte beeindrucken mich aber noch heute, ihre sensible Schlichtheit, die thematische Reduktion auf die eigene Erfahrung- und Lebenswelt, an der er zugrunde gegangen ist. Man muß ihn im Kontext der damaligen Gegenwartslyrik sehen  (ich denke da z.B. an Wolf Wondratscheks „Chuck’s Zimmer“) -  Kaser hat eine eigene Position und Radikalität entwickelt, der ich – das Südtiroler Umfeld berücksichtigend – meinen Respekt zolle. Ich habe mich oft gefragt, ob er Tumler in seiner Brixner Rede als Vater unserer Literatur und unseres Erkennens bezeichnet hätte, wenn er gewußt hätte, daß Tumler bereits 1936 Mitglied des nationalsozialistischen „Bundes der deutschen Schriftsteller Österreichs“ geworden war, eine im Auftrag der Reichsschrifttumskammer gegründete Vereinigung; außerdem war Tumler Mitglied der NSDAP und SA...
Ich sehe übrigens gerade in der fehlenden innovativen weiblichen Tradition in Südtirol – Kaser war mit seiner Lyrik der „Neuen Subjektivität“ auf der Höhe seiner Zeit - und in dem durch die Erfindung des Internets bewirkten grundlegenden Wandel der Mediennutzung eine große Chance. Es kann auch befreiend sein, sich nicht an einer vorhandenen Literaturtradition abarbeiten zu müssen. Wo keine klaren Entwicklungslinien sind, keine kontinuierliche Abfolge von Schriftstellerinnengenerationen zu finden ist, bleibt zumindest die Gefahr des Epigonentums gering. Der Bernhard-Sound hat eine beträchtliche Anzahl österreichischer Schriftsteller geprägt, auch der Kaser-Stil blieb nicht ohne Nachahmer.
 
Obexer: Wer weiß, wie viele besoffene Texte in gleicher schöner radikaler Subjektivität zur selben Zeit in Südtirol von Frauen geschrieben worden sind, ohne dass sie jemals veröffentlicht wurden.
 
Gruber: Es ist jedenfalls auffallend, daß es vor 1986 (Erscheinungsdatum „Die Zaunreiterin“ von Anita Pichler)  in Südtirol zwar Bücher von Tumler, Rosendorfer, Kaser (posthum), Kofler, Zoderer u.a. gegeben hat, aber keine Bücher von Südtiroler Schriftstellerinnen, die man als anspruchsvolle Literatur oder modern hätte bezeichnen können.
Die vielen unsichtbaren Hürden, über die ich stolperte, begriff ich jeweils beim Stolpern.
Maxi Obexer
 
Obexer: Wir kennen die Geschichte nicht, die es gäbe, wenn Frauen in gleicher Weise wahrgenommen worden wären. Denn dass es sie genauso gab, daran zweifle ich nicht.
 
Gruber: Und es fällt auch auf, daß von den genannten Autoren bis auf Kaser alle Kinder in die Welt gesetzt haben. Unter den freiberuflichen Südtiroler Schriftstellerinnen sind kaum Mütter zu finden.
 
Obexer: Es zeigt halt einmal mehr, welche harten Entscheidungen eine Frau für ihre Eigenständigkeit zu treffen hatte.
 
Gruber: Zu einem anderen Thema: Heute befürchte ich eher, dass die künstlerischen Freiheiten, die hart erkämpft worden sind, durch falsch verstandene Cancel Culture oder Political Correctness wieder zunichte gemacht werden.
Noch bemerke ich derartige Reglementierungen hauptsächlich in Diskussionen nach Lesungen, aber es sollen inzwischen auch Verlage Manuskripte ablehnen, in denen sie beleidigende oder diskriminierende Standpunkte vermuten lassen. Kunst muss alles dürfen!
 
Obexer: Ja es scheint mir auch ein Problem geworden, eine Kontrollkultur, in der statt Genaugigkeit und Schärfe eine ideologisierte Political Correctness praktiziert wird, die das Wesentliche aus den Augen verliert.
 
Ich finde den Hype auf N.C. Kaser, der ein paar Gedichte verfasst hat und sich dann im Suff ertränkt hat, reichlich überzogen.
Maxi Obexer
 
 
Gruber: Noch einmal zurück zur SAV, die ihren 40. Geburtstag feiert. Was hat dich vor fünf Jahren motiviert, den Vorsitz der Südtiroler AutorInnenvereingigung anzunehmen?
 
Obexer: Die frühere SAV ging aus linken Zusammenhängen hervor, das hat mich motiviert. Sie hatte ihre Gründe, kulturpolitische und künstlerische Gegenpositionen zu formulieren, im progressiven Sinne und links-demokratisch: Literatur und Kunst muss allen gehören und mit allen geteilt werden können. Sie muss Ausdruck sein können für alle, die sich darin ausdrücken wollen. Kritisch, gegenüber den Hierarchien, kritisch gegenüber allen Ungleichheiten. Und dazu gehört ganz zentral ein feministisches Bewusstsein, das auch mit Dir und Renate Mumelter immer präsent gehalten wurde. Dass ihr damals bei der Vollversammlung in Neustift dabei wart, zusätzlich zu denen, die auf einen Neustart drängten, darunter Martin Hanni und Maria C. Hilber, hat mich überzeugt.
Peter Oberdörfer, der Vorsitzender war, meinte, dass es im Gegenteil sogar gut sei, dass ich in Berlin lebe; das verstand ich zwar nicht, aber es schob meine Bedenken vom Tisch. Mit ihm hatte ich lange vorher schon zu tun, u.a. als ich die literarische Seite im Wochenmagehin „Der Freitag“ gestaltete.
Als ich mich entschied, den Vorsitz anzunehmen, sah ich lauter Lücken, die zu füllen mich reizte. Ich sah die Lücke einer sichtbaren, einer politisch wachen und wachsamen KünstlerInnen- und AutorInnenposition, die präsent ist und reagiert.
Angesichts der letzten großen globalen Krisen, (und inzwischen sind sie durchwegs alle global verursacht und also auch global zu besprechen), schwebte mir eine Community vor,
die Stellung bezieht, und die nicht den rechten Angstmachern das Feld überlässt.  Eine künstlerische Gruppierung, wie es sie in allen Ländern, Städten, Regionen gibt, die aktiv ist und den Diskurs mitbestimmt.  Und die beansprucht, gesellschaftlichen Wandel zu beeinflussen, mit Kunst, mit Literatur, mit adäquaten Formen der Auseinandersetzung. Dass es eine Vereinigung ist und kein Verein, daß es AutorInnen sind, die aus ihrer Perspektive diese kulturpolitische Position formen und definieren, finde ich außerdem sehr entscheidend.
 
Obexer: Wie nimmst du die inzwischen neu aufgestellten SAAV wahr?
 
Gruber: Die SAAV, wie ich sie in der letzten online-Sitzung wahrgenommen habe, agiert in meinen Augen weitaus professioneller und vor allem transparenter als die alte SAV, die noch – wenn ich das so salopp ausdrücken darf - „vor sich hin gewurstelt“ hat. Das meine ich im übrigen gar nicht abwertend; es gab keine bezahlte Infrastruktur. Die Vereinigung lebte vom Idealismus und dem selbstlosen Engagement einiger weniger. Hervorzuheben sei die Arbeit von Georg Engl, der viele Jahre die Redaktion der „sturzflüge“ und die Koordination der SAV geleitet hat. Mir fiel auf, dass alle extrem höflich und wertschätzend miteinander umgehen. Das ist äußerst erfreulich, andererseits scheint es keinen Dissens mehr zu geben, keine kontroversen Diskussionen.
 
Obexer: Diesen Anschein mag auch die Zoom-Konferenz und eine ziemlich durchorganisierte Vollversammlung erweckt haben. Andererseits teile ich die Meinung, dass wir uns allgemein von sehr konsensorientierten Programmen klein halten und der Konflikt zu wenig kultiviert wird. 
 
Gruber: Ich erinnere mich an frühere SAV-Sitzungen, in denen heftig debattiert wurde, wofür und in welcher Höhe z.B. die vorhandenen Subventionsgelder ausgegeben werden sollen, wieviel von dem Geld für den Druck der „sturzflüge“ und wieviel für Veranstaltungshonorare reserviert werden soll.  Ich kann mich erinnern, dass einzelne in den 80er und 90er Jahren auch bereit waren, gratis zu lesen. Wer regelmäßig ein Gehalt bezieht, kann sich schwer vorstellen, was es heißt, von den verkauften Büchern, Lesungen, Radiosendungen und Publikationen in Zeitungen zu leben.
Heute befürchte ich eher, dass die künstlerischen Freiheiten, die hart erkämpft worden sind, durch falsch verstandene Cancel Culture oder Political Correctness wieder zunichte gemacht werden.
Sabine Gruber
Obexer: Dass Lesungen, Beiträge u.a. entsprechend honoriert werden müssen, ist inzwischen kein Thema mehr. Allerdings wird es wieder zum Thema durch Online-Magazine, bei denen es wieder salonfähig wird, Texte von AutorInnen gleichzubehandeln wie Leserbriefe.
 
Gruber: Da gibt es in Südtirol Aufklärungsbedarf. Dass Interviews zu Neuerscheinungen noch als Werbegespräch durchgehen, ist nachvollziehbar, aber ich weigere mich inzwischen, Artikel oder Essays abzuliefern, die nicht entlohnt werden.
 
Obexer: Außerdem erwischt uns gegenwärtig die Digitalisierung in den Medien, im Rundfunk, im Theater mit voller Breitseite.
 
Gruber: Damals waren die unterschiedlichen Interessen noch stark davon abhängig, ob jemand ein fixes Einkommen hat oder freiberuflich als Schriftstellerin zu überleben versucht.  Für jemanden, der bei der RAI oder als Lehrer ein Einkommen bezieht, ist das Lesungshonorar nicht überlebenswichtig.
 
 
Obexer: Auch heute ist das natürlich ein wesentlicher Unterschied, es prägt ja das Leben existenziell und das täglich. Wer hauptberuflich als Schriftstellerin arbeitet, lebt öffentlich, setzt sich permanent aus mit ihrer literarischen Arbeit, macht fortwährend Bekanntschaft mit dem Kulturbetrieb, lebt darin, professionalisiert sich darin, macht täglich Erfahrungen mit Menschen, Freunden, Instituitonen. Diese fortwährende Ausgesetztheit schärft natürlich auch die Persönlichkeit und das eigene literarische Werk.
 
Gruber: Literarisches Schreiben war – wie wir wissen - lange nur Wohlhabenden möglich, in manchen Staaten, welche die Kultur der öffentlichen Lesungen nicht kennen oder kaum Stipendien zur Verfügung stellen, ist es noch heute vorwiegend ein Beruf der Bürgerlichen.
Alle, die ernsthaft versucht haben, Literatur zu verfassen, wissen, dass es „nebenher“, sozusagen als Nebenbeschäftigung, kaum möglich ist. In einer Veranstaltung hat man mir einmal widersprochen und Kafka als Beispiel genannt. Nun lässt sich gerade an diesem Schriftsteller zeigen, dass er in einem bürgerlichen Umfeld mit Dienstboten gelebt und geschrieben hat. Er musste sich weder um das Bügeln seiner Hose noch um die Essenszubereitung kümmern. Seine juristische Tätigkeit an der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt war eine mit „geringer Frequenz“ – wie es damals hieß. Er war um 14 Uhr aus der Anstalt draußen. Eine Frau, die auch nur halbtags arbeitet, ev. auch noch Kinder großzieht, und im Glücksfall sich die Hausarbeit mit jemandem teil, wird kaum Zeit für das Verfassen eines anspruchsvollen, dickeren Romans finden.
 
Obexer: Das galt insbesondere für Autorinnen. Viele Autoren konnten trotz Familie gut Romane schreiben, weil ihnen der Rücken von den Frauen freigehalten wurde. Den Support bekamen sie obendrein. Und vielleicht konnte auch nur so ein Hauptberuf daraus werden. Heute seh ich‘s in manchen Fällen umgekehrt, da unterstützt der Mann seine Frau als Schriftstellerin, und ich bemerke: auch er kommt, so wie die Frau damals, zu fast nichts anderem mehr. Oder eben keine Familie. Viele hauptberufliche Künstlerinnen und Autorinnen, aber auch in anderen Bereichen wie in der Wissenschaft, im Journalismus u.a. verzichteten auch deshalb auf Kinder.
 
Gruber: Zudem hat sich die Rolle der SchriftstellerInnen sehr verändert. Die Vermarktungsmaschinerie ist äußerst zeitaufwendig, und die sogenannten Serviceleistungen, die wir für unsere Bücher erbringen sollen, damit der Verkauf angekurbelt wird, werden immer mehr und entfernen sich immer weiter vom eigentlichen Text. Für mich haben Autorinnen- und Autorenvereinigungen vor allem die Funktion, den Beruf der Schriftstellerin und des Schriftstellers zu stärken. Die Sinnhaftigkeit der Kunst- und Literaturproduktion, der Kultur generell, wird sowieso ständig - in Krisenzeiten besonders vehement - in Frage gestellt. Die Kunst wird bedauerlicherweise von vielen nicht als „systemrelevant“ gesehen. SchriftstellerInnen, die ohne Honorar auftreten, unterminieren das ohnehin angeschlagene Image des Schriftstellers/der Schriftstellerin noch mehr.
Während der Pandemie haben sich in Österreich zahlreiche Kulturschaffende zu Wort gemeldet und einen Rettungsschirm für die Kulturbranche gefordert – das ist auch Aufgabe von Autorinnen- und Autorenvereinigungen, nämlich geschlossen für finanzielle Kompensationen einzutreten und auf die Wichtigkeit von Kultur und insbesondere Literatur hinzuweisen. 
 
Obexer: Viel Grundsätzliches wurde durch die Vorgängerinnen in der SAV erreicht, beispielsweise die Anerkennung von Südtiroler KünstlerInnen im Ausland, und du hast Recht: in richtigen Krisenzeiten wie jetzt, können Grundsätze schnell ins Wanken geraten, und das war kurz auch der Fall in diesem Punkt, als die Hilfsmaßnahmen nur Ansässigen zustehen sollten.
Und zugleich geht es auch um eine Menge Verfeinerungen: Der radikale Gestus in der Forderung von Grundsätzlichem, weicht zuweilen dem gegenseitigen Dialog, und auch das kann nur funktionieren, wenn wir es mit vertrauenswürdigen Kultur-PolitikerInnen zu tun haben. Ich wünsche mir, dass auch in Südtirol bald nicht mehr eine hauptsächlich männliche Literatur das kulturelle Gedächtnis bestimmt.
 
 
 
 
 
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Elisabeth Garber Mar, 02/23/2021 - 11:41

Das Zwiegespräch von S. Gruber und M. Obexer ist interessant und zeugt von Mut und Durchsetzungskraft in Männerdomänen.
P.S.: Die Tatsache, dass R. Mumelter, die von S. Gruber zweimal genannt wird, in diesem Medium regelrecht ‚hinausgeekelt‘ wurde, hinterlässt einen unguten Beigeschmack.

Mar, 02/23/2021 - 11:41 Collegamento permanente