Gesellschaft | Intensiv-Debatte

“Fern jeder Realität”

Maximal 50, aber keinesfalls 100 Intensivbetten kann Südtirol aufbringen, sagt Werner Beikircher. Der Intensivmediziner rechnet mit den “Zahlenspielen” ab.

Schon vor einer Woche sagte Werner Beikircher in zwei Kommentaren im salto-Forum klar und deutlich: Die Zahlen, die Gesundheitslandesrat Thomas Widmann nennt, hält er für “Phantasiezahlen”. Und als Anästhesist an der Intensivstation am Krankenhaus Bruneck dürfte Beikircher wissen, wovon er spricht. Konkret geht es um die Intensivbetten. Deren Auslastung ist ein Faktor für die Einstufung im regionalen italienischen Ampelsystem – das Gesundheitsministerium hat eine Warnschwelle von 30 Prozent festgelegt. Aber nicht nur: Auch die die Landesregierung verwendet die Belegung der Intensivstationen als Kriterium, um Schließungen und Öffnungen zu begründen. In “normalen” Zeiten stehen südtirolweit 37 Intensivbetten zur Verfügung. Im Zuge der Corona-Pandemie habe man auf 77 Intensivbetten aufgestockt, und im Extremfall könnten es bis zu 100 werden, berichtete Widmann bereits im November im Landtag. Vergangene Woche wiederholte der Gesundheitslandesrat diese Zahlen. Im Dolomiten-Interview erklärte er dann auch, dass das dafür notwendige Personal – Ärzte und Pfleger – von anderen Abteilungen in die Intensivstation abgezogen werden könnte.

Laut Widmann waren zu dem Zeitpunkt – am 2. Februar – 35 Intensivbetten belegt. 32 davon mit Covid-19-Patienten. Aktuell sind 35 Betten mit Covid-Intensivpatienten belegt. Wie viele Intensivpatienten ohne Corona-Infektion betreut werden, ist nicht bekannt. Aber bei 100 möglichen Betten besteht doch auch kein Grund zur Sorge – oder?

Das zumindest will der Gesundheitslandesrat glauben machen. Werner Beikircher rechnet mit den “Zahlenspielen” ab. Maximal 50 Intensivbetten seien in Südtirol möglich, so der Intensivmediziner. Das habe er auch in Gesprächen mit Kollegen an anderen Krankenhäusern so bestätigt bekommen, berichtet Beikircher im RAI-Morgengespräch am heutigen Montag. “Der Herr Widmann redet von 100 und niemand kann sich vorstellen, wie er darauf kommt.”

Ich denke, dass diese Zahlenspiele zum Teil möglicherweise auch in den politischen Entscheidungen eine Rolle gespielt haben, dass wir so lange offen gelassen haben. (Werner Beikircher im RAI-Morgengespräch vom 8. Februar)

Auf salto.bz schrieb er vor einer Woche: “Im Extremfall kann Südtirol seine Intensivbetten kaum über ca. 50 erhöhen, weil es dafür kein Personal gibt. Die Phantasiezahlen, die hier zirkulieren (Widmann einmal 100 Betten, dann 75 Betten, Seiwert 110+ Betten) sind fern jeder Realität.” Und zwar, weil es nicht möglich sei, das Fachpersonal für die Intensivstation aus anderen Abteilungen zu rekrutieren. “Man kann ohne weiteres Parkbänke und Fahrradpumpen als Intensivbetten deklarieren, man kann Intensivpatienten auch wiederum exportieren nach halb Europa (wie im Frühjahr 2020), es ändert nichts daran, dass Südtirol dringend fremde Hilfe braucht. Nach 11 Monaten Pandemie sehen wir ausgelaugtes Pflegepersonal, einige davon haben schon das Handtuch geworfen. Intensivpflege braucht jahrelanges Lernen und Erfahrung, sie kann nicht ex juvantibus aus anderen Abteilungen geswitcht werden. Neue Ärzte sind kaum dazugekommen.”

Sie können einen Facharzt für Augenheilkunde nicht zu einem Intensivrespirator hinstellen, sie können auch keinen Intensivmediziner in den Orthopädie-OP stellen (…). Das gilt im großen Rahmen auch für das Pflegepersonal. (Werner Beikircher im RAI-Morgengespräch vom 8. Februar)

Und weiter: “Es ist richtig und gut, dass die Landesregierung die Zahl der Intensivbetten aufgestockt hat, auch die Errichtung einer neuen Covid-Intensiv in Bozen ist ein wichtiger Schritt. Ich bleibe aber dabei, dass wir 77 Intensivbetten derzeit nicht dauerhaft bespielen können, die Man Power dafür gibt es nicht. Auch dürfen wir Covid nicht zum heiligen Gral der Intensivmedizin erklären, viele andere Patienten und Fächer zahlen die Zeche dafür (Primar Perkmann hat das vor kurzem eindrücklich formuliert). Letztlich dürfen wir nicht der Verlockung verfallen, eine theoretische hohe Zahl von freien Intensivbetten (durchaus mit Vollausstattung) nach Rom zu melden, um über ein entspannteres Auslastungsverhältnis etwa eine bessere regionale Einstufung zu erzielen. Benchmark sind nicht leere Betten in einer Halle, sondern realistische Versorgungskapazitäten; diese Berechnung sollte einmal vorgestellt werden.”

Wenn das Gespräch auf den Gesundheitslandesrat fällt, stellt sich mittlerweile heraus, dass er ein Häuptling ohne Krieger ist. Draußen an der Front versteht diesen Mann niemand mehr. (Werner Beikircher im RAI-Morgengespräch vom 8. Februar)