Kultur | Salto Gespräch

Mutter Europa

70 Jahre Akademie deutsch-italienischer Studien Meran. Ein Gespräch mit dem Präsidenten Cuno Tarfusser. Über Ängste, Menschenwürde und die gefährliche Sprache von oben.
cuno_tarfussert.jpg
Foto: Salto.bz

salto.bz: Sie sind frühmorgens in Den Haag gestartet, um als Präsident der Akademie deutsch-italienischer Studien pünktlich zu den Jubiläumsfeiern in Meran zu sein. Was liegt Ihnen an dieser Institution?

Cuno Tarfusser: Ich bin eigentlich recht zufällig Präsident geworden. Ich war hier vor einigen Jahren für eine Tagung zu internationalem Terrorismus geladen und habe damals einen Vortrag gehalten – aus meiner Perspektive als Richter auf internationaler Ebene. Vom damaligen Präsidenten, dem Botschafter Luigi Vittorio Ferraris, wurde ich damals außerdem gefragt, ob ich bereit wäre bei der Akademie mitzuarbeiten. Ich komme ja ursprünglich aus Meran und kannte die Akademie aus meiner Jugend. Was ich bei dem Gespräch mit Ferraris nicht so mitbekommen habe war, dass ich seine Präsidentschaft übernehmen sollte. Ich wurde also Präsident, ohne dass mir das so richtig bewusst war. Und jetzt bin ich es. Und ich finde es auch wichtig, wenn man schon ein relativ privilegiertes Leben geführt hat, also wo einem die Gesellschaft sehr viel gegeben hat, dass man da auch versucht der Gesellschaft was zurückzugeben.


Die Akademie ist eine kulturelle Institution. Sie kommen aus einer ganz anderen Sparte. Was ist Ihr Ansatz?

Als ich dieses Amt angenommen habe, habe ich für mich selbst und im Gespräch mit den Mitarbeitern folgendes zur Voraussetzung gemacht: Erstens, dass man die Akademie – die ja so etwas Elitäres in sich trägt und eher auf einem Podest abseits der Gesellschaft steht – innerhalb der Gesellschaft mehr öffnet. Die Akademie ist im Ausland bekannter, als in Italien, in Südtirol und in Meran.
Ich fand es zudem wichtig, auch zu meinem beruflichen Hintergrund passend, dass man sich hier den Themen Zusammenleben, Menschenrechte und Menschenwürde widmet und diese Themen aus vielen Facetten beleuchtet. 

Eine Plattform für Menschenrechte und Menschenwürde?

Diese Thematik ist heutzutage wichtiger denn je. Dieses gegenwärtige Schüren von Ängsten finde ich nämlich äußerst befremdlich. Natürlich gibt es Negatives, aber das Schüren von Hass, bei uns, wo wir in einem Land leben und eine Sicherheit haben wie noch nie – das ist das schon beängstigend.


Das Thema Sicherheit dient der Politik und den Medien für Schlagzeilen. Je negativer, desto besser. Warum ist das so?

Lassen Sie mich die Ebene wechseln und ein Beispiel machen. Wenn irgendwo ein Flugzeug abstürzt, dann schreibt jede Zeitung: Das Flugzeug ist abgestürzt, zwei- oder dreihundert Tote – was dramatisch und tragisch ist – aber nirgendwo steht, dass am selben Tag 200.000 Flugzeuge abgeflogen und angekommen sind. Und wenn es dann tragischerweise passiert, dass ein Flugzeug auch mal abstürzen kann – was ja auch immer eine Möglichkeit darstellt – dann wird nur das gesagt und verbreitet. Mit dem Beispiel will ich sagen: Negativ-Sachverhalte kommen groß in die Medien, das Positive wird ausgeklammert. Und ich weiß das, denn ich bin durch meine Arbeit seit 10 Jahren mit den unglaublichsten Bestialitäten, die überall auf der Welt passieren, konfrontiert. Dennoch führe ich ein sicheres Leben, während Milliarden von Menschen das nicht haben. Ich will damit sagen: Ich verstehe die Dramatik eines Flugzeugabsturzes, auch die Dramatik wenn ein Ausländer ein Vergehen begeht, wie es vor einigen Tagen in Bozen vorgekommen ist – natürlich ist das dramatisch, klar. Aber daraus etwas Allgemeines zu kolportieren und damit den Menschen Furcht einzujagen, das ist für mich nicht tolerabel.

Es herrscht auch eine Politik, die Angsthetze betreibt und Menschen wie auch Medien damit füttert. Was kann man dagegen tun? 

Die Leute müssen etwas über den Tellerrand blicken und vielen Dingen einfach kritischer gegenüberstehen. Es gibt ja neben kriminellen Ausländern, tausende Ausländer die nicht kriminell sind, und ohne die wir nicht unseren Wohlstand hätten. Wir müssen unseren Horizont weiten.

 

Auf Internetplattformen spielen sich einige Menschen gerne als selbsternannte Richter auf. Zudem gibt die Politik eine unmöglich aggressive Sprache vor, wie etwa durch Trump in den USA, durch Salvini in Italien, oder von Politikern in Österreich, Polen oder Ungarn. Was kann man dagegen machen?

Man darf einfach nicht alles glauben, was einem von oben und durch die Presse vorgegaukelt wird. Genau zum vorhin angesprochenen Fall in Bozen möchte ich hinzufügen: Als ich noch Staatsanwalt war, in den 1990er Jahren, da hat sich ein ähnlicher Fall zugetragen. Da wurde ein Mädchen, am helllichten Tag im Sommer, auf den Talferwiesen in Bozen vergewaltigt. Der Beschuldigte wurde in relativ kurzer Zeit gefasst und verurteilt. Der Unterschied in der Tat ist überhaupt keiner. Der Unterschied ist aber, dass der Täter damals aus Deutschland kam und dass die Bevölkerung das anders wahrgenommen hat und diese Wahrnehmung auch anders nach außen getragen hat. Ich bin der Meinung, wenn dieselbe Tat ein Südtiroler begangen hätte, dann steht das auf der Lokalseite der Presse, wenn sie aber ein Ausländer begangen hat, dann steht das auf der ersten Seite. 

Die Politik geht damit auf Stimmenfang…

Natürlich hat die Politik auch Mitschuld, klar. Die Politik vertritt ein Interesse mit einer Zielsetzung, und diese Zielsetzung ist: Wählerstimmen. Früher war das noch etwas anders, da gab es Filter zwischen den Regierenden und den Regierten. Diese Filter waren Parteien, Gewerkschaften, Bildungseinrichtungen, auch die Kirche. Heute gibt es diese Filter kaum mehr, da niemand mehr filtert. Der Regierende spricht über Social-Media mit seinem Volk, auf direktem Weg...

…und bedient sich einer griffigen, massiven Sprache, die keine Tabus mehr zu kennen scheint. Woher kommt dieser Hass?

Wir haben im vergangenen November eine Tagung zu diesem Thema veranstaltet, über die Verrohung der Sprache. Es fühlen sich anscheinend viele legitimiert, den gleichen Wortschatz zu verwenden, der mitunter auch von oben kommt. Damit hat in den 1990er Jahren Berlusconi bereits begonnen. Die Menschen bedienen sich dann dieser legitimierten Sprache, die eigentlich vorher vielleicht in der Bar oder beim Stammtisch benutzt wurde. Das ist eine sehr gefährliche Entwicklung.

Dagegen würde Bildung und multikulturales Verständnis helfen…

Man muss die Leute zu Kritikfähigkeit animieren. Sie müssen ihre eigene Meinung bilden, um Urteile abzugeben. Ohne Twitter-Weisungen von oben.


Sie haben in Ihrer Jubiläumsrede aus dem Gründermanifest gelesen. Wie ist es Ihnen dabei ergangen?

Mich beeindruckt dieses Manifest. Vor den couragierten Personen, die das vor 70 Jahren geschrieben haben, muss man den Hut ziehen. Wenn ich das auf heute projiziere, dann glaube ich, dass es in vielen Teilen noch Gültigkeit hat. Schlimm empfinde ich, dass wir als Gesellschaft wieder Schritte zurück machen. Es gibt doch Europa! Anstatt dieses sich Einkapselns in Lokalismen und Regionalismen. Ich finde das unmöglich.

Europa ist in Schwierigkeiten. Wie können die Menschen helfen?

Ich lebe seit 10 Jahren in einer Institution wo 123 Staaten verbunden sind. Natürlich gibt es da Schwierigkeiten. Doch Schwierigkeiten kann man meistern, indem man versucht sie zu verstehen, indem man Lösungen anbietet und sich eben nicht von den Schwierigkeiten vereinnahmen lässt.


Eine metaphorische Muttertags-Frage aus aktuellem Anlass. Wenn wir Europa als eine Mutter der vielen Staaten und Kulturen versinnbildlichen, was wünschen Sie dieser Mutter knapp vor den nächsten Wahlen?

Ich wünsche mir, dass viele zum Muttertag gehen, das heißt: Wählen gehen! Und Parteien wählen, die für Europa stehen und nicht gegen Europa sind.

Bild
Profil für Benutzer Karl Trojer
Karl Trojer Di., 14.05.2019 - 10:31

In allen Kontinenten wird darum gekämpft, den Wohlstand zu verbessern. I Südtirol erleben die allermeisten Menschen Frieden, ausreichende Lebensqualität, eine noch gesunde Natur. Und trotzdem ist Angst dominant und Unzufriedenheit aktuell. Macht Konsum, macht Wohlstand blind ? Lasst uns, zur Europawahl gehen und jene wählen, die klar für Wertschätzung der Verschiedenheiten, Subsidiarität und Solidarität eintreten und dafür eine starke Föderation anstreben. Ohne ein starkes Europa werden uns in 30 Jahren "Chinesen" sagen wo´s lang geht.

Di., 14.05.2019 - 10:31 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Peter Gasser
Peter Gasser Di., 14.05.2019 - 19:37

Antwort auf von Sepp.Bacher

Versuch einer (unvollständigen) Auflistung:
keine Vulkanausbrüche,
keine Tsunamis,
keine großflächigen Überschwemmungsgebiete,
keine großflächigen Vermurungen,
keine straken Erdbeben,
keine Taifune, Zyklone,
keine großflächigen Brände,
keine großen Hitzen oder klirrenden Kälten,
ununterbrochen Energie für alle,
dafür:
Niemand leidet Hunger, Durst, Nässe, Kälte,
Arbeit für alle,
mit anderen beste Verkehrs-Infrastruktur,
mit anderen bestes Gesundheitswesen,
5 Krankenhäuser für 500.000 Einwohner,
hohe Dichte an Hausärzten, Zahnärzten, Fachärzten,
mit anderen geringste Kriminalitätsrate,
kaum Bandenwesen und Korruption.
Versuchen Sie, diese Listen jetzt für Länder in Asien, Afrika, Südamerika zu machen.
Naja, ein Selbstmord pro Woche in Südtirol (und etwa 2 - 4 Mal so viele Versuche) sollte uns doch über soziale Wärme, Empathie und ausreichende psychologische Betreuung nachdenken lassen, aber wir beschäftigen uns lieber mit anderen Gefahren.
In Südtirol ist die Wahrscheinlichkeit, durch die eigene Hand zu sterben wesentlich größer, als durch fremde Hand. Analog verhält es wohl - auf Familie und Fremde bezogen - mit Gewalt gegen Frauen und Kinder.
Mein Beitrag war also keine „Verallgemeinerung“, sondern die Darstellung von Fakten.

Di., 14.05.2019 - 19:37 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Sepp.Bacher
Sepp.Bacher Di., 14.05.2019 - 20:59

Antwort auf von Peter Gasser

"Wer sich in Südtirol unzufrieden und unsicher fühlt,...." Gas gibt es, das ist Realität. Fragen Sie Hilfsorganisationen! Damit will ich nicht abstreiten, dass es anderswo nicht schlechter ist. Aber jeder misst sich anhand seiner Realität!
"Niemand leidet Hunger, Durst, Nässe, Kälte, Arbeit für alle," Auch diese Behauptung stelle ich in Frage! Es krankt bei uns, in Europa oder Global daran, dass man die Minderheiten und Randgruppen nicht wahrnehmen will bzw. ihr Schicksal und ihre Situation nicht als bedeutend wahrhaben will bzw. bagatellisiert!

Di., 14.05.2019 - 20:59 Permalink
Bild
Profil für Benutzer Peter Gasser
Peter Gasser Di., 14.05.2019 - 21:14

Antwort auf von Sepp.Bacher

Sie haben meinen Hinweis zum sozialen Defizit schon herausgelesen? Solange Menschen einsam sind, Pflege und psychologische Betreuung Jugendlicher große Defizite aufweisen, Frauen nichts für die Erziehung der Kinder bekommen und Selbstmorde jede Woche geschehen, ist es ein Hohn, von Straßen-Rondellen unter dem Sellastock zu fabulieren...
und ja, auch der hat Ängste, der sich statt des Porsche-Turbo nur noch den normalen Porsche leisten kann...

Di., 14.05.2019 - 21:14 Permalink