Gesellschaft | Interview

“Alles geht eben nicht”

Welchen Plan gibt es für die Schule im Herbst? Man wolle auf kein Szenario unvorbereitet sein, sagt Bildungsdirektor Gustav Tschenett – und rechtfertigt Kürzungen.
Gustav Tschenett
Foto: LPA/Ingo Dejaco

Wie schaut die Schule im Herbst aus? Worauf müssen sich Direktoren, Lehrer, sonstiges Schulpersonal, Eltern und Kinder einstellen? Antworten liefert Gustav Tschenett, bei dem als Bildungsdirektor für die deutsche Schule viele organisatorische Fäden zusammenlaufen. Zugleich will er der Kritik und den Bedenken, die in der Schulwelt herrschen, den Wind aus den Segeln nehmen. Dass die real sind, beweist nicht zuletzt ein offener Brief, den das Lehrerteam der Grundschule Taisten am Mittwoch Abend (zu einem Zeitpunkt, als dieses Interview bereits geführt war, Anm.d.Red.) neben dem Bildungsdirektor auch an Landeshauptmann Arno Kompatscher, Bildungslandesrat Philipp Achammer und Landesschuldirektorin Sigrun Falkensteiner verschickt. Darin bitten die Lehrpersonen um Antworten und Stellungnahmen der verantwortlichen Entscheidungsträger – und fragen sich unter anderem: “Haben wir es mit Corona-Vorsichtsmaßnahmen zu tun oder wird unter dem Deckmantel von Corona eine Schulreform eingeführt?”

salto.bz: Herr Tschenett, wann wird feststehen, unter welchen Voraussetzungen Schule im Herbst wieder stattfinden kann?

Gustav Tschenett: Die Frage ist die falsche Frage zur falschen Thematik. Einen solchen Tag X kann es deshalb nicht geben, weil wir nicht wissen, wie sich die epidemiologischen Gegebenheiten entwickeln. Deshalb planen wir für alle drei Eventualitäten. Damit wir auf keine Situation unvorbereitet sind.

Welche drei Szenarien sind das?

Wir haben die Szenarien “Rot”, “Grün” und “Gelb” definiert. Bei Szenario “Rot” kommt es zu einem zweiten Lockdown, wie es jetzt in bestimmten Bezirken in Deutschland der Fall ist. Szenario “Grün” wäre eine vollkommene Öffnung aufgrund der Zusicherung der Sanitätsverantwortlichen, dass wir uns nicht mehr sorgen brauchen. Für Szenario “Gelb” planen wir das Unterrichtsjahr bei den heute gegebenen Einschränkungen. Wir müssen für alle drei Szenarien gerüstet sein. Auf die Frage “wann wisst ihr endlich, was de facto Sache ist?” kann es keine endgültige Antwort geben solange es keinen Impfstoff gibt bzw. das Virus nicht verschwunden ist. Mit dieser Unsicherheit müssen wir leben und eben auch planen.

Nichtsdestotrotz haben sich die drei Bildungslandesräte vor zwei Wochen auf “Spielregeln für den Neustart” geeinigt: kein Nachmittagsunterricht in den unteren Schulstufen; Mix aus Präsenz- und Fernunterricht in der Oberstufe; keine von der Schule betreute Mensa; gestaffelte Ein- und Austrittszeiten; Mindestabstand von einem Meter zwischen den Schülern in den Klassenzimmern. Werden diese Vorgaben so beibehalten?

Die Politik hat folgendes vorgegeben: Wir sollen die Planung so machen, dass so viel Präsenzunterricht wie möglich stattfinden kann. Immer unter Voraussetzung der gegebenen Rahmenbedingungen, zum Beispiel die Einhaltung der Abstände. Unter diesen Bedingungen müssen wir vor allem im Kindergarten sowie in der Grund- und Mittelschule so viel Präsenzunterricht wie möglich gewährleisten. Und natürlich, wenn möglich, auch in der Oberstufe. Dort sorgen Schülertransport und Schülerheimen für zusätzliche Einschränkungen.

Die Szenarien “Grün”, “Rot” und “Gelb” gelten nicht nur für ganz Südtirol, sondern auch für jede Schule

Unter Schulführungskräften und Lehrpersonen gibt es teilweise Unverständnis, etwa darüber, dass der Nachmittagsunterricht in der Unterstufe ausfallen oder die Mensa von der Schule abgezogen werden soll. Warum sind diese Entscheidungen so gefallen?

Wenn in der Unterstufe alle Kinder vormittags Schule gehen sollen – in Präsenz – und die Regelungen bezüglich der Abstände sowie die Sicherheitsmaßnahmen sind, wie sie sind, müssen wir mehr Klassen bilden. Aufgrund unserer Erhebung müssen wir 250 Klassen mehr bilden, damit für alle Präsenzunterricht möglich ist. Der zusätzliche Bedarf an Klassen muss mit dem bestehenden Lehrpersonal abgedeckt werden. Dann geht halt nicht alles – Vormittagsunterricht mit 250 Klassen mehr und nachmittags auch noch ein Angebot. Dann bräuchte es mehr Lehrpersonen. In der Planung haben wir gesehen, dass eventuell ein Nachmittag möglich sein könnte. Und wir werden sicher eine gute Lösung finden.

Auch für die Mensa?

Wenn es keinen Nachmittagsunterricht gibt, gibt es auch keine Mensa. Wenn es einen Nachmittagsunterricht gibt, gibt es eine Mensa – die von den Gemeinden organisiert wird. Die Mensa in der Unterstufe und im Kindergarten hat bisher noch nie die Schule übernommen. Das war immer eine Aufgabe der Gemeinden.

Die Aufsicht in der Mensa haben bisher sehr wohl Lehrpersonen innegehabt.

Organisation – Essen, Kochen usw. – war aber immer Aufgabe der Gemeinden. Jetzt können Sie sich vorstellen, wenn wir 250 Gruppen mehr bilden, sollen auch noch Lehrpersonen die Aufsicht in der Mensa machen, nachdem sie vormittags 250 Gruppen mehr betreuen… Es geht eben nicht alles, mathematisch ist nicht alles so beliebig möglich, wie man es manchmal gerne hätte.

Die Entscheidungen, Nachmittagsunterricht und Mensa zu streichen bzw. zu kürzen sind also wegen einer Personalfrage gefallen? Weil mehr Räume mehr Lehrer und damit Arbeitskraft beanspruchen, die für die anderen Dienste fehlt?

Genau. Wenn ich 250 Gruppen mehr bilden muss, brauche ich für diese 250 Gruppen auch mehr Personal, das wir irgendwoher nehmen müssten. Wenn die Auflage ist, alle müssen in Präsenz anwesend sein, dann muss ich irgendwo Angebote kürzen, damit ich zumindest am Vormittag Unterricht für alle anbieten kann

Es geht in keinster Weise darum, Autonomie der Schulen einzuschränken

In gewissen Schulen soll zusätzlich die effektive Unterrichtszeit gekürzt werden. Wird es so weit kommen?

Die Unterrichtszeit wird in den Grund- und Mittelschulen gekürzt werden müssen wenn wir wollen, dass vormittags alle Schüler präsent sind. Sonst ist es rechnerisch und technisch gar nicht möglich. Wobei wir hier von einer minimaler Unterrichtskürzung sprechen. Wir schauen wirklich, so wenig wie möglich zu kürzen, um die Präsenz gewährleisten zu können.

Wenn ich Sie richtig verstehe, wird also das Personal, das aktuell im Schuldienst befindet, auch weiterhin beschäftigt bleiben und die Arbeitszeit der Lehrpersonen nicht gekürzt?

Nein, die Arbeitszeit wird sicher nicht gekürzt. Wir planen ja mit den Lehrpersonen, die wir haben und der vollen Arbeitszeit. Dadurch, dass sie zusätzliche Klassen betreuen müssen, brauchen wir natürlich alle, brauchen sie vor allem im Unterricht und nicht für andere Tätigkeiten, die sonst überall geboten wurden.

Werden die Vorgaben der Landesschulverwaltung für alle Schulen der jeweiligen Schulstufen gleich gelten? Oder werden die Schulen bestimmte Bereiche auch autonom regeln können?

Grundsätzlich ist es so, dass die Schulen selbstverständlich autonom ihre Stundenpläne machen und Stundenkontingente einteilen können. Aber es wäre problematisch, wenn etwa eine Schule aufgrund ihres Lehrerkontingents ein größeres Angebot bieten könnte als die Nachbarschule. Da müssen wir sozusagen einen Ausgleich finden und wir sind dabei, das zu klären. In den Oberschulen ist es so, dass die Transporte die Planung beeinflussen bzw. vorgeben. Wenn die Mobilität nicht für alle gewährleistet ist, müssen sich die Schulen an diesen Umstand halten. Es kann nicht sein, dass die Schule X sagt, bei mir können alle kommen, weil wir genügend Räume und Lehrpersonen haben – und die Schüler der Schule Y können dann nicht transportiert werden. Daher müssen wir einfach, solange dieser Notstand gilt, bestimmte Rahmen vorgeben.

Es geht in keinster Weise darum, Autonomie der Schulen einzuschränken. Aber in dieser Notsituation müssen wir eben steuernd eingreifen. Wenn Abstände einzuhalten sind, können wir nicht sagen, wir machen die Klasse trotzdem voll. Ich habe manchmal das Gefühl, dass man nicht die Situation als Gesamtes im Blick hat. Das Coronavirus hat nicht die Bildungsdirektion bestellt, damit wir irgendetwas tun können, was wir sonst nicht tun könnten. Ich möchte mit Nachdruck darauf hinweisen, dass wir uns in einer Notsituation, in einer Ausnahmesituation befinden. Es ist nicht ein Interesse der Bildungsdirektion, jetzt zu sagen, wir wollen Autonomie einschränken oder sonst etwas. Es gibt eben Rahmenbedingungen, die uns vorgegeben werden und die wir einhalten müssen. Corona ist erst seit einem halben Jahr da – und wir müssen uns vorbereiten. Und natürlich hoffen, dass alles gut ausgeht und wir nicht wieder in eine Situation wie vor wenigen Monaten kommen.

Wenn eine bestimmte Anzahl an Infektionsfällen auftritt, müssen die Schulen darauf vorbereitet sein und die Schüler auch von zu Hause aus betreuen können

Andererseits kehrt immer mehr Normalität in den Alltag zurück – erst am Dienstag hat die Landesregierung weitere Lockerungen beschlossen. Ist es daher nicht nachvollziehbar, dass es Unverständnis gibt, wenn in der Schule weiterhin solch große Einschränkungen gelten sollen?

Aber deshalb planen wir ja auch mit dem Szenario “Grün”! Wenn dieses eintritt – super, dann kehren wir zurück zur Normalität und alles ist gut. Nur, die Wahrscheinlichkeit, dass dem so ist, ist sehr gering. Wenn morgen vonseiten der Medizin die Rückmeldung kommt, alles ist passé, das Virus ist verschwunden, ok. Aber alle seriösen Wissenschaftler sagen, das Virus verschwindet nicht so schnell, sondern wird uns eine Zeit lang begleiten. Deshalb glaube ich, es ist die Aufgabe einer guten Verwaltung, alle Szenarien zu planen. Wenn wir so blauäugig wären und sagen, wir machen weiter wie vor Corona, möchte ich nicht wissen, was Sie dann schreiben, wenn wir im Oktober die Schulen wieder schließen müssen und niemand ist darauf vorbereitet. Ich möchte schon ein Minimum an seriöser Betrachtung der Lage einfordern.

Sollte sich die Situation im Hinblick auf das Virus im Laufe des Schuljahres – zum Positiven oder Negativen – verändern, gibt es einen Plan B und der Schulbetrieb kann zum Beispiel von “Gelb” auf “Rot” geschaltet werden?

Genau. Die Szenarien “Grün”, “Rot” und “Gelb” gelten nicht nur für ganz Südtirol, sondern auch für jede Schule, für jede Schulstufe. Sie müssen sich das folgendermaßen vorstellen: Wir starten jetzt mit Plan “Gelb”, weil die Rahmenbedingungen der Sanität und bestimmte Sicherheitsauflagen noch gegeben sind. Falls es dann einen Bezirk geben sollte, über den ein Lockdown verhängt wird wie es beispielsweise in Deutschland in Gütersloh der Fall ist, zum Beispiel das Pustertal oder Gröden – das wünscht sich niemand –, weil eine bestimmte Anzahl an Infektionsfällen auftritt, müssen die Schulen darauf vorbereitet sein und die Schüler auch von zu Hause aus betreuen können. Wenn morgen in einer Schule eine Klasse gesperrt wird, muss diese Klasse seriös betreut werden. Wir müssen uns vorbereiten, um reagieren zu können. Und wir planen, damit wir zwischen den Plänen switchen können – je nachdem wie sich die Situation darstellt. In der Hoffnung, dass alles ruhig bleibt.

Es ist die Aufgabe einer guten Verwaltung, alle Szenarien zu planen

Das bedeutet auch für Familien und Eltern, dass sie sich darauf einstellen müssen, dass ihre Kinder womöglich wieder zu Hause bleiben und unterrichtet werden müssen.

Wenn morgen in irgendeiner Schule ein Fall auftritt und die betroffene Klasse unter Quarantäne gesetzt wird, wird das so sein.

Wird es auch an den Schulen bzw. unter Lehrpersonen und Schülern eine großflächige Testreihe geben?

Ich würde das erneut mit Blick auf Sicherheit und der Hoffnung auf Sicherheit betrachten. Was bedeutet ein Test? Wenn ich heute alle Lehrer teste, was bedeutet dieser Test in einer Woche?

Er ist eine Momentaufnahme.

Genau. Das bedeutet, ich kann natürlich gerne alle jetzt testen. Dadurch würden wir uns aber auch ein Stück weit etwas vormachen, wenn wir meinen, damit, dass wir alle getestet haben, ist das Problem aus der Welt. Denn mit einem Test jetzt kann ich feststellen, in diesem präzisen Moment haben wir an der Schule keinen positiv Getesteten. Was aber nicht bedeutet, dass ich in fünf Tagen auch keinen Positiven habe. Deshalb denke ich, es ist wichtig, dass die Testmöglichkeit besteht, dort, wo ein Fall auftritt und dass man die Infektionskette verfolgen, die Betroffenen rasch herausfinden und in Quarantäne schicken kann. Mit einer Testreihe habe ich kein Problem gelöst. Das Problem löse ich, wenn es ausreichend Testkapazitäten gibt. Es ist nicht vorbei – es tauchen immer wieder Infektionsnester auf. Hoffen wir, dass es die bei uns nicht gibt. Aber wir können es sicher nicht ausschließen. Und darauf wollen wir vorbereitet sein. Das ist unser Plan.

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Greta Karlegger Do., 25.06.2020 - 08:16

Eine Stimme der Vernunft - eine Wohltat. Manche Exponenten der Schulwelt und der Politik wollen ja mit dem Kopf durch die Wand. Wohlgemerkt: Senza aver testa. Hier ist das Gegenteil der Fall. Bravo!

Do., 25.06.2020 - 08:16 Permalink
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Elisabeth Hammer Do., 25.06.2020 - 14:18

"Die beiden Landesräte für Tourismus, Arnold Schuler, und Gesundheit, Thomas Widmann, unterstreichen die Wichtigkeit der Testungen, um Südtirol als sicheres Urlaubsland zu positionieren." .... zitiert aus einem salto Beitrag vor wenigen Tagen. Dem möchte ich eigentlich nur hinzufügen, dass es seitens der politisch Verantwortlichen für den Bereich Familie und Schule wie folgt heißen müsste: "Die beiden Landesraete für Bildung, Achammer, und für Familie, Deeg, tun alles, um Südtirol als sicheres Bildungsland zu positionieren." Warum auf der einen Seite Massen-Tests sinnvoll sind (Tourismus), in der Schule wie oben dargestellt aber nicht, kann ich nicht nachvollziehen. Warum ist Südtirol für den zahlenden Touristen sicher ("grün"), während für den Schulbereich mit Variante "gelb" geplant wird?

Do., 25.06.2020 - 14:18 Permalink
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Peter Gasser Do., 25.06.2020 - 15:07

Antwort auf von Elisabeth Hammer

ja, das ist eben (leider) so...
und weiters:
Die viele 100.000de Euro teure Testung in der Tourismusbranche (übrigens auch kostenlos für die Hotelbesitzer und deren Kinder) gilt aussagekräftig für wie lange? Eine Woche? Also jede Woche alle neu testen, mit öffentlichen Mitteln?
Andernfalls ist es ja nur ein Touristen-Nepp.

Do., 25.06.2020 - 15:07 Permalink
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Annaliese Federer Di., 07.07.2020 - 09:20

Nicht sehr ermutigend. Irgendwie wird man den Eindruck nicht los, dass für die Schule ( und damit für die Familien) keine finanziellen Mittel bereit gestellt werden dürfen. Die Schule soll demnach froh sein, wenn sie überhaupt noch finanziert wird. Wer entscheidet, dass die Schule mit dem selben Personal wie bisher in der Ausnahmesituation zurechtkemmen muß? Die Lobby der anderen Bereiche, oder? Marode Fluggesellschaften werden mit Miliardenbeträgen künstlich am Leben gehalten. Aber wir wissen es eh, Erziehung ist in der Schule und leider auch oft noch in der Familie zum Großteil Frauensache und wie stark die Lobby der Frauen ist, hat sich in den letzten Monaten wieder mehr als deutlich gezeigt.
Das Argument, es wäre kein zusätzliches Personal zu finden, ( das im Interview nicht einmal angeführt wird - es wird gar nicht begründet, warum kein zusätzliches Personal eingeplant wird) kann entkräftet werden: Studenten der Bildungsuniversität wären froh, wenn sie gerade in dieser Zeit wertvolle Erfahrungen in den Schulen sammeln könnten. Gerade in der Grundschule haben in der Vergangenheit immer Maturanten ohne Universitätsabschluss mit viel Elan und Engagement die Zukunft unserer Gesellschaft gewährleistet.

Di., 07.07.2020 - 09:20 Permalink