Kultur | Roadmovie

Das letzte Volk

Sie agieren unter dem Wahrzeichen des Igels, igeln sich manchmal ein oder geben sich stachelig bei mächtigen Unterdrückern. Wer sie sind, zeigt der Kinofilm "Ruäch".
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Foto: freneticfilms
  • Nach dem mitunter in Südtirol gedrehten Spielfilm Lubo, gibt es demnächst im Filmclub in Bozen erneut ein Wiedersehen mit der in der Geschichte und Gegenwart arg gebeutelten Randgruppe der Jenischen. Die Regisseure Andreas Müller, Simon Guy Fässler, Marcel Bächtiger begegnen der Minderheiten-Kultur als Kollektiv. Das ist löblich und bereits das erste große Plus des dokumentarischen Roadmovies Ruäch, denn es zeigt (leider in der Branche viel zu selten), dass das autoritär agierende Regie-Genie, das allwissend am Set sagt wo es lang zu gehen hat, eigentlich vollkommener Humbug ist. 

  • Pädagogik des Fragens: Ein Film nach den Regeln einer demokratischen, antiautoritären Methode. Foto: Soapfactory

    Mehrere Meinungen, vergessene Stimmen und kleine Geschichten vermögen es eindeutig umfassender und weitblickender, diese derart komplexe und – sagen wir es ganz ohne Scheu aus dem Blickwinkel eines Ruäch – geheimnisvolle Geschichte der jenischen Randgruppe filmisch einigermaßen einzufangen. Ein Ruäch ist übrigens ein Mensch, der nicht jenisch ist, insofern ist der Titel des Films ein freimütiger Weckruf an die Mehrheit der vielen Nichtjenischen. Seit Ende August 2023 ist Ruäch in diversen Kinosälen unterwegs. Im Film sind es vor allem die Filmemacher, weniger die von ihnen porträtieren Jenischen. 

  • Unentwegt unterwegs?: Viele der jenischen Minderheit zählen seit langem zur sesshaften Mehrheit. Foto: Soapfactory

    Fast im Style eines "jenischen Navigationsgerätes" kommt immer wieder eine ins Roadmovie eingebaute Telefon-Stimme in den filmischen Erzählstrang, die den unwissenden Ruäch mit jenischem Basis-Wissen versorgt, aber auch zu Vorsicht rät. „Wie macht man einen Film über Menschen, die lieber unsichtbar bleiben? Wie erzählt man von den Schicksalen einer Minderheit, wenn man selbst zur Mehrheitsgesellschaft gehört? Wie lässt sich eine uns unbekannte Lebensweise filmisch darstellen, ohne eine voyeuristische Perspektive einzunehmen?“, lauteten die Fragen der Regisseure am Anfang ihres Projekts. Die Antworten zu den Ausgangsfragen geben ein über mehrere Nationen verteiltes buntes Bild zu Geschichte und Gegenwart. Was fehlt, ist ein würdiger Blick in die Zukunft der Jenischen. Aber vielleicht braucht es diesen gar nicht? Weil die Minderheit ja vor allem im Jetzt agiert, weil sie auf vermeintliche Sicherheitsversprechungen so weit es geht verzichtet, um im besten Sinn das Leben freier Vögel zu führen. Bei allen Nebenwirkungen.

  • Über das Jenische: Rückblicke und der Fokus auf die Gegenwart Foto: soapfactory

    Das Klischee der frei umherziehenden Minderheit ist natürlich Fluch und Segen. Zum einen schwingen da natürlich immer romantisierende Gedanken mit, welche zum größten Teil in den Hirnen der Mehrheit gebacken wurden: die meisten Jenischen sind nämlich seit Jahrzehnten sesshaft, also zumindest jene, die nicht assimiliert wurden, oder auch jene, denen der Geschichtenlauf nicht auf übelste Weise mitgespielt hat. Vieles was den Jenischen an Leid zugefügt wurde, ist so unverständlich wie ihre manchmal ablehnende Haltung. Warum das so ist? Gibt es dafür Erklärungen? 
     

    Die gezeigten Jenischen erzählen offen und sie offenbaren ihre Erfahrungen mit leichtem Vorbehalt, zu sehr wurde ihr "Volk" im Lauf der Geschichte gebeutelt.


    Sie sei „ein bisschen der Patriarch“ glaubt Isabelle Gross im Film. Die Jenische bildet den Mittelpunkt eines Clans im französischen Annemasse, einer Gemeinde die nur wenige Kilometer vom wohlhabenden Genf liegt. Das „bloße Hausfrauen- und Mutter-Dasein“ habe sie „nie interessiert“. Sie ist es, die die Fäden (und die Finanzen) zusammenhält, überall anpackt „wo ihre Familie in einfachen Holzhütten oder Wohnwagen“ lebt und seit Jahrzehnten Kämpfe mit der Stadtverwaltung führt. Geheimnisvoll und gleichzeitig erkenntnisreich ist auch die Lebensgeschichte von Manuel Duda, der mit Frau Sylvana und drei Kindern in einem abgelegenen Tal in Kärnten lebt, und der wie bereits sein Vater dem Beruf des Messerschleifers nachgeht. Geld und Besitz bedeuten ihm wenig, er arbeite nämlich nur so viel „um über die Runden zu kommen“. Für Duda zähle „die Zeit, die er mit seinen Kindern verbringt, in den Wäldern und an den Bächen, beim Streunen, Schwimmen und am Feuer.“ Wichtig sei ihm aber, den Kindern „das Wissen der Jenischen weiterzugeben: die geheimen Zeichen, die Sprache, die Handfertigkeiten.“ 

  • Wir lassen uns nicht verarschen: Unter- und Auftauchen für die eigene Geschichte und Kultur. Foto: Soapfactory

    Ob Gross-Familie oder das zufrieden wirkende Duda-Dasein: Über weitere sehens- und zuhörenswerte Protagonisten und Protagonistinnen taucht Ruäch direkt in den jenischen Kulturkosmos ein, begleitet und beobachtet neugierig den Alltag der Minderheit aus dem Blickwinkel rastlos umherziehender Filmemacher. Da geht es fein und respektvoll zu, man begegnet sich auf Augenhöhe, denn es geht weder um Besser oder Schlechter, Ärmer oder Reicher, sondern um ein gemeinsames Ziel, das – ob Ruäch oder Jenisch – mit erkämpfter und verdienter Menschlichkeit umschrieben werden kann. 
    Verdrängt oder vergessen bleiben die früheren Sterilisationsmaßnahmen, die Wegnahme von Kindern, die Vertreibungen im Film nicht. Die gezeigten Jenischen erzählen offen und sie offenbaren ihre Erfahrungen mit leichtem Vorbehalt, zu sehr wurde ihr "Volk" im Lauf der Geschichte gebeutelt. Was sie sich und das Ihre bewahrt haben, bleibt zwar auch nach dem Film ein über Grenzen solidarisch zusammengeschweißtes Geheimnis und hat einen Mehrheits-Ruäch auch nicht im Detail anzugehen. Wer dennoch dem Jenischen nachspüren will, setzt sich ab kommender Woche am besten ins Kino und gleichzeitig auf den Rücksitz des Campers der Filmemacher, um der Reise zu den wohl autochthonsten Reisenden Europas ganz nahe zu kommen. Und vielleicht nebenbei ihrem Geheimnis.

  • (c) freneticfilms

  • Termine im Filmclub