Gesellschaft | Coronavirus

Was wirklich beunruhigt

Nicht um das Virus, sondern um die sozialen Folgen von Corona sollten wir uns sorgen. Eine Gesellschaftsanalyse in vier Phasen.
Die Gesellschaft vor der Probe: Wie bewältigen wir Krisen?
Foto: Pixabay

Vor dem Virus fürchte ich mich nicht wirklich: Ich bin unter siebzig und habe zum Glück keine Immunkrankheit. Somit gehöre ich zum Großteil der italienischen Bevölkerung, der sich keine Sorgen vor einer Ansteckung machen muss. Natürlich, aus Respekt vor erheblich Älteren und Kränkeren halte ich mich an die Regeln. Doch ich lebe nicht in Panik um meine Gesundheit und um die, meiner Mitmenschen. So ähnlich sieht es Professor Graninger, Ex-Chef der Infektiologie am Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien, der kürzlich in einem Interview sagte, das Coronavirus könne uns allen „den Buckel runterrutschen“. Die Maßnahmen seien aber ein wichtiger Test für die Zukunft, falls tödliche Epidemien wie zum Beispiel Ebola kommen sollten, bei dem 80 Prozent sterben, anstatt 2 Prozent wie beim Coronavirus.

Ich hingegen sehe diese Zeit als Probe für die Menschheit, ihren Zusammenhalt, ihre Rationalität im Umgang mit Krisen. Und genau hier kommen wir zu meiner eigentlichen Sorge: Die Sorge darum, was dieses Virus mit den Menschen, mit uns als Gesellschaft, macht. Erste kollektive Verhaltensmuster lassen sich bereits abzeichnen. Daher wage ich eine Analyse der italienischen Gesellschaft, basierend auf meinen subjektiven (!) Beobachtungen der letzten Wochen. (Ganz ohne wissenschaftlichen Anspruch). Bisher entwickelte sich die Reaktion der Bevölkerung auf das Coronavirus in vier Stadien:

Stadium I: Schuldzuweisung

Als die ersten Coronafälle in China und dann auch Europa bekannt wurden, kam es zur üblichen Krisen-Reaktion: Die eigene Angst an andere auslassen und einen Schuldigen suchen. Der Finger wurde auf die Chinesen gezeigt, auf diese Allesfresser, die sogar Fledermäuse auf ihren Esstischen servieren. Die Straßenseite wurde gewechselt, wenn ein Passant mit asiatischen Gesichtszügen entgegenkam, manch einer äußerte seinen Rassismus gar offen. Krisensituationen werden gerne dazu genutzt, Fremdenfeindlichkeit legitim nach außen zu stülpen. 

Diese Zeit sehe ich als Probe für die Menschheit, ihren Zusammenhalt, ihre Rationalität im Umgang mit Krisen

Dann plötzlich wurden wir die „neuen Chinesen“, als sich Italien als drittes Land mit den meisten Coronafällen entpuppte, und es wurde leiser im Stiefel.

Stadium II: Opferrolle

„Gli Italiani vengono discriminati all’estero”, hieß es in den Medien, als bekannt wurde, dass Italiener nicht mehr in Flugzeuge eingelassen wurden. “Non siamo un virus, siamo persone“, beklagte die Öffentlichkeit. Produkte “made in Italy” würden in den Dreck gezogen, kritisierten Journalisten: „Il virus non sta mica sul Grano Parmigiano!“. Selbstreflektion über das eigene Verhalten, das kurz zuvor genau jene Diskriminierung gegen chinesische Produkte und Personen widerspiegelt hatte, blieb aus. Der Feindkonstruktion des anderen fügte sich nun auch die Opferrolle der eigenen Bevölkerung hinzu. 

Humor trotz Corona: "Tutti paura adesso the Milanese in volo", youtube

 

Stadium III: Die Spaltung

Vor einer Woche hatten die Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus noch nicht die Ausmaße von heute angenommen. Italienerinnen und Italiener waren sich also noch nicht sicher, wie man auf die Berichterstattung reagieren sollte: mit schriller Panik oder mit Witz über eine bloße Übertreibung? Hier spaltete sich die Gesellschaft in zwei Lager: Ersteres reagierte mit Hamsterkäufen, verließ das Haus nur mehr mit Mundschutz (der dringender in Krankenhäusern gebraucht worden wäre), und regte sich über die Verantwortungslosigkeit jener auf, die sich nicht in ihr Haus einschlossen. Die andere Hälfte benahm sich wie ein trotziger Teenager, und schlug erst recht auf die Pauke: Hände wurden fleißig geschüttelt, Bars besucht, und jede Sorge als überzogen abgetan. Auf den sozialen Medien häuften sich satirische Videos und Memes.

Ich sah in dieser Phase aber einen Hoffnungsschimmer in der Entwicklung unserer Spezies: Die Medien riefen die Menschen auf, Solidarität zu zeigen, gegenüber Jenen, die weniger Immunschutz vor dem Virus haben. Und auch den Humor hatte Italien zum Glück nicht verloren, denn das Lachen stirbt zuletzt. Meine These lief auf folgendes hinaus: Ist ein bestimmter Kipppunkt der Verzweiflung erreicht, schlagen Schuldzuweisungen und Opferrolle in Solidarität um, die eine Gesellschaft zusammenwachsen, und das Beste daraus machen lässt.

 

Stadium IV: Naturzustand wie Hobbes ihn beschrieb

Der Philosoph Thomas Hobbes geht in seinen Lehren davon aus, dass die Menschheit im Naturzustand in Chaos und Krieg versinken würde. Daher braucht es laut ihm einen Gesellschaftsvertrag und eine Staatsmacht (den sogenannten Leviathan), der diesen überwacht. Seit gestern habe ich Zweifel an meiner Theorie des Solidaritätskipppunkts, denn es scheint tatsächlich so, als wäre unser Gesellschaftsvertrag temporär ausgesetzt. Dazu ein empirisches Beispiel aus dem Tiergeschäft: Geht ein Bekannter Stroh kaufen für sein Hauskaninchen. Vor ihm ein Kunde, der die letzten sechs Strohpackungen in seinen Einkaufswagen stopft. Mein Bekannter fragt, ob er auch eine Packung abhaben könne für sein Kaninchen. Der Mann sagt „Nein“, und dreht sich um. So ähnlich verhalten sich viele Menschen, wenn man sich die leeren Supermarktregale und Schlangen vor den Apotheken anschaut. Der Mensch befindet sich wieder im chaotischen Naturzustand.

Dabei sind solche Reaktionen unlogisch. Wir befinden uns nicht im Krieg, deshalb herrscht keine Lebensmittelknappheit, und somit bedarf es auch keiner Hamsterkäufe. Unlogisch ist das Verhalten auch in seiner Proportionalität zu Reaktionen auf weitaus existenziellere Probleme, Sprichwort Klimawandel: 

Die WissenschaftlerInnen: „Ihr solltet eure Hände waschen wegen des Coronavirus“

Die Leute: „Ich werde nicht mehr fliegen, Mundmasken anhäufen, von zuhause arbeiten und mein Leben komplett umstellen“

Wieder die WissenschaftlerInnen: „Die Klimakrise wird Millionen töten- wir müssen alternative Energiequellen finden und unsere Transportmittel, um zur Arbeit zu gehen, ändern“

Die Leute: „Auf keinen Fall!“

 

Drei Lehren, die wir aus der Situation wirklich ziehen können

Das Beste, was wir in Zeiten der Krise machen können, ist daraus zu lernen und Positives mitzunehmen. Zum einen kann uns diese Situation lehren, mehr zu schätzen, was wir haben. Seit ich zuhause festsitze, führt mir die Werbung diese Tatsache jeden Tag vor Augen. In einem Clip geht es um eine Party, die mich daran erinnert, dass ich für eine Weile nicht mehr mit meinen Freunden feiern gehen kann. Ein anderer Clip zeigt einen Sommerurlaub am Strand, eine Aktivität, die vor kurzem noch so alltäglich erschien, gerade aber wie ein weit entfernter Luxus für mich. Das macht mir bewusst, wie dankbar ich sein sollte, einen Reisepass zu besitzen, der es mir erlaubt, überall hin zu fliegen.

Eine weitere Lehre, die wir aus den Zeiten des Coronavirus ziehen können: Pauschalisierung und Diskriminierung aufgrund von Nationalität ist unangenehm, verletzend und respektlos. Das nächste Mal, wenn wir etwas herablassendes über Menschen anderer Kulturen sagen, sollten wir uns daran erinnern, wie es sich anfühlt, bei der Erwähnung der eigenen Herkunft im Ausland dumm angeguckt zu werden, oder nicht ins Flugzeug gelassen zu werden.

Zuletzt noch eine Lehre, die uns Hoffnung schenken kann: Die Menschheit ist in der Lage, auf Krisen zu reagieren. Das zeigen individuelle Inseln der Solidarität, etwa junge Menschen, die für Ältere einkaufen gehen. Ein Staat, der die Gesundheit seiner Bürger über wirtschaftliche Interessen stellt, und sogar Milliarden zur Bewältigung der Krise bereitstellt. Menschen, die gesundheitlich den Virus nicht fürchten müssen, aber dennoch auf ihre individuelle Freiheit verzichten, um das Kollektiv zu schützen. Die Menschheit kann, wenn sie will. Ich hoffe sie wird es weiterhin wollen, wenn es darum geht, den Klimawandel einzudämmen, um unseren Planeten zu retten. Denn die Menschheit kann ihn retten. Wenn sie will.

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Pasqualino Imbemba Do., 12.03.2020 - 03:57

Mich beschäftigt die Frage, warum es ausgerechnet in Italien so viele infizierte Menschen gibt im Vergleich zu anderen (EU-)Ländern. Ein krasser Unterschied! Der Spiegel geht dem nach (https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/coronavirus-warum-gibt-es-i…) und ja, es macht Sinn: die älteste Bevölkerung Europas ist sicherlich ein wichtiges Datum. Im Kontext einer Gesellschaft, die es als soziale Struktur nicht gibt, d.h. der Begriff "Gesellschaft" beschreibt für mich im italienischen Kontext die Summe der Bevölkerung und gewisse Muster (wie beispielsweise alte, männliche Managementstrukturen und eine unterdurchschnittliche Kompetenz), liegen da noch weitere Fehler: Patient Eins wurde "übersehen", und das obwohl wir einen EU-Standard haben (sollten), obwohl wir sicherlich mindestens genauso viel Krisenmanagement-Strukturen aufweisen können, wie anderswo. Kurzum: Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß "die Politik der Opportunität" die diese Gesellschaft fährt und die auch in Südtirol längst "angekommen" ist, sich wie ein feiner roter Abrissfaden durch die Säulen der res publica fährt. Hier und da passieren "kleinere" Unfälle, und manchmal eben große. Die Fatalität ist dann proportional zu dieser Politik, es braucht nur die "falsche" Verkettung der Ereignisse.
Und ja doch: Der Staat hat eine soziale Funktion, sollte sie haben, gegenüber denjenigen die Unterstützung brauchen, insbesondere Kinder und Senioren.

Do., 12.03.2020 - 03:57 Permalink
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Peter Gasser So., 15.03.2020 - 11:52

Antwort auf von Pasqualino Imbemba

es war auch "Pech":
Für China sind die oberitalienischen Städte begehrte Reiseziele.
Ich habe gelesen, dass im November und Dezember in China vielfach günstige Pauschalreisen nach Oberitalien angeboten worden sind, auch in der Provinz Hubei, und dass daher grad besonders viele chinesische Touristen nach Oberitalien gekommen waren. Es war eben der "falsche Zeitpunkt", und damit eben auch "Pech" im Spiel.
Zudem traf es Italien als erstes Land in Europa, und daher eher unvorbereitet; alle anderen kopieren jetzt die italienischen Maßnahmen, da Italien das Beispiel ist, was geschieht, wenn man eher unvorbereitet ist.
2 Mal Pech, eben auch.

So., 15.03.2020 - 11:52 Permalink
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Martin Daniel Fr., 13.03.2020 - 21:51

In Unterschied zur aktuellen Pandemie fehlt der Klimakrise laut Verhaltensforschern die akute Bedrohung, um Menschen zum Handeln zu zwingen. Da auch schlimmste Szenarien mit zeitlichen und örtlichen Unsicherheiten behaftet sind, d.h. niemand genau sagen kann, welche Katastrophen wann und wo eintreten werden, reagiert der Mensch weder als Kollektiv noch als Mehrheit von Individuen vergleichbar konsequent auf wissenschaftliche Vorgaben. (Dieses Verhalten hat sich auch in der Corona-Krise bestätigt: So lange die Infektionen wenige und weit entfernt waren (und für andere Länder jetzt noch sind) bestand weder Angst noch Handlungsdruck und die Maßnahmen waren völlig unzulänglich.) Wird dieser Faktor um die Wirkungsverzögerung der Reaktionen auf das Klimageschehen ergänzt, so lassen sich aus der aktuellen Krisenbewältigung leider keine hoffnungsvollen Parallelen ziehen. Es bräuchte sofortige Weichenstellungen ohne darauf zu warten, dass das Wasser bis zum Hals steht. Aber den dazu berufenen Entscheidungsträgern könnte eine weitere Errungenschaft der Zivilisation, die Demokratie, schnell zum Verhängnis werden und dessen sind diese sich sehr wohl bewusst. Ein vieldimensionales Dilemma.

Fr., 13.03.2020 - 21:51 Permalink
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Klaus Griesser Sa., 14.03.2020 - 18:55

Es ist "nur" eine Frage der Macht: wer die Menschheit zur Zeit beherrscht - das sind sehr sehr wenige!- will weiterhin seine momentanen Vorteile ziehen, der Rest interessiert nicht."Nach uns die Sintflut"!

Sa., 14.03.2020 - 18:55 Permalink
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Alois Abart Mi., 25.03.2020 - 00:19

`Was wirklich beunruhigt
Nicht um das Virus, sondern um die sozialen Folgen von Corona sollten wir uns sorgen.´
Sie haben diese Stufenskala recht gut ausgearbeitet. … bis zur Stufe IV!
Ich verstehe aber nicht, warum Sie ab da an mit einem anderen gelagerten Tema weitermachen?
Sie haben sich mit der IV ten Stufe dann "verzettelt"! Warum?, weil hier würde es sozusagen dann zum "Schwur" kommen!
Nehmen wir an, heute ist der 24. igste März, wir sind in der 2. ten Woche des "Hausarrests": Wie lange wird es dauern, bis der sog. "Kipppunkt" erreicht ist? Ich will sagen: wie lange wird die Solidarität und der geopferte Freiheitsverlust umschlagen in Rebellion und Aufrur? Vergessen wir nicht: die Bilder und Nachrichten dienen dazu, den Ausharrenden durch Angst in ihren 4 Wänden zu verbannen. Wenn aber das "aufgeladene Gemisch" durch unsachgemäße Erschütterungen gereizt wird, fliegt uns alles um die Ohren.
Diesen sog. Kipppunkt vorzeitig zuerkennen, werden die Vertreter von Institution, Medizin und Wirtschaft mit der weisen Abwägung der Folgen zu entscheiden haben. Demzufolge sind wohl eher nüchterne und unorthodoxe Entschlüsse gefragt, als altruistische Tagträumereien.
Alsdann wäre ich wieder angelangt bei Ihrem Untertitel, den ich dreimal unterstreichen möchte.

Mi., 25.03.2020 - 00:19 Permalink