Società | nicht genehm?

Missglückte Entfesselung

Dürfen in einem Psychiatrischen Rehazentrum keine heiklen Themen diskutiert werden? Diese Frage stellt sich seit Mittwoch nicht nur der Salurner Gemeindebibliothekar.
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Foto: forumsalutementale.it

Es hätte eine Premiere werden sollen, das Event, das am Mittwoch Abend im Psychiatrischen Rehabilitationszentrum Gelmini in Salurn vorgesehen war. “Hätte” – wäre da nicht dieser Anruf gekommen. Ein Anruf, der Fragen aufwirft und einen verdutzten Bibliothekar sowie einen fassungslosen Herausgeber zurücklässt.


Bitte nicht hier

… E tu slegalo subito” ist der Titel eines Buches, das die Psychiaterin Giovanna Del Giudice geschrieben hat. Erschienen ist es im Meraner Alpha Beta Verlag. Auf 380 Seiten hält Del Giudice, die im psychiatrischen Fachkrankenhaus von Triest tätig ist, ein Plädoyer gegen die “contenzione in psichiatria”. Ausgehend von einem Fall aus dem Jahr 2006, als in Cagliari ein Psychiatrie-Patient an einer Lungenembolie starb nachdem er sieben Tage lang festgebunden worden war, verurteilt die Autorin und Fachfrau die Isolierung von Patienten, die stationär psychiatrisch behandelt werden und deren physische Ruhigstellung. Das Buch bildete bei seiner Erscheinung 2015 den Auftakt für die gleichnamige Kampagne gegen die gängigen Praktiken im Umgang mit Psychiatrie-Patienten. Als Alternative zur “contenzione”, also der faktischen Bewegungslosigkeit, in die Psychiatrie-Patienten zum Teil versetzt werden – meist aus Sicherheitsgründen –, schlägt Del Giudice ein offenes Betreuungsmodell vor, beziehungsweise, die betroffenen Personen in ihrer gewohnten Umgebung zu betreuen und Unterstützung für das persönliche Umfeld anzubieten. Auch, um die Würde des Menschen nicht zu verletzen.

Es macht mir große Angst, wenn Menschen Angst vor einem Buch zu haben scheinen.
(Aldo Mazza)

“Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass es sich hier um ein schwieriges und heikles Thema handelt”, sagt Claudio Tommasini. Nichtsdestotrotz, oder gerade deshalb, hatte der Bibliothekar der Gemeindebibliothek Salurn die Idee, die Buchvorstellung von “… E tu slegalo subito” in einem ganz besonderen Ambiente zu veranstalten. Und zwar im Psychiatrischen Rehabilitationszentrum Gelmini in der Salurner Schillerstraße. Am Mittwoch (19. Oktober) um 20 Uhr sollten Interessierte die Gelegenheit haben, mehr über Buch und Autorin zu erfahren. Giovanna Del Giudice war eigens aus Triest angereist. “Auf meine Nachfrage war mir der Konferenzsaal im Gelmini unverzüglich und offiziell vom Sozialsprengel Neumarkt zugesichert worden”, berichtet Tommasini. Rasch waren die Vorbereitungen getroffen, Plakate gedruckt und verteilt. Doch dann passierte etwas, mit dem der Bibliothekar nicht gerechnet hatte.


Das Verbot kommt von Oben

“Es war gegen halb fünf als mich am Mittwoch Nachmittag mein Telefon klingelte”, erinnert er sich, “und ich wurde urplötzlich dazu aufgefordert, die Buchvorstellung an einen anderen Ort zu verlegen”. Am anderen Ende der Leitung war Andreas Conca, seines Zeichens Primar des Zentrums für Psychiatrische Gesundheit in Bozen und als solcher zuständig für das Psychiatrische Rehazentrum Gelmini. “Wir haben eine Weile hin- und herdiskutiert, aber ich habe bis zum Schluss nicht wirklich verstanden, aus welchem Grund die Struktur für die Veranstaltung ungeeignet sein und diese daher anderswo stattfinden sollte”, gesteht Tommasini. Conca habe ihm gesagt, dass der Abend die Patienten im Gelmini verstören könnte.

Wir werden nicht aufhören, auch über brisante Themen zu sprechen.
(Claudio Tommasini)

Was sich im Laufe des Gesprächs hingegen herausstellte, war, dass Conca wohl am Mittwoch Vormittag von der Buchpräsentation erfahren haben dürfte und daraufhin in der Salurner Gemeindeverwaltung nachfragte, über die er dann bei Tommasini landete. “Der Gedanke, den Abend im Gelmini zu organisieren, war mir gekommen, weil es seit dem Bestehen des Zentrums im Jahre 2003 noch nie gemeinsame Initiativen mit der Gemeindebibliothek gegeben hat. Die Buchpräsentation sollte nur der Anfang einer zukünftigen Zusammenarbeit sein”, erklärt der Bibliothekar. Dass ihm dann aber ein Korb gegeben wurde, ist für ihn schlichtweg unverständlich. Doch viel Zeit zum Nachdenken hatte er am Mittwoch Abend nicht. Nach kurzem Überlegen beschloss er, nachzugeben und verfrachtete die Veranstaltung kurzerhand in einen anderen Saal im Jugendzentrum, “der zum Glück frei war”, so Tommasini. Mit eilig geschriebenen Zetteln, die er im ursprünglichen Austragungsort im Gelmini anbrachte, informierte er die Besucher über den Ortswechsel: “Aber es ist natürlich klar, dass der Abend schließlich nicht verlaufen ist, wie ich es mir gewünscht hätte.”


Und nun?

Anders hat sich den Abend auch Aldo Mazza vorgestellt. Der Verleger von Alpha Beta ist selbst in der StopOPG-Initative aktiv, die sich lange Zeit und italienweit für die Schließung der gerichtlichen psychiatrischen Krankenhäuser (“ospedali psichiatrici giudiziari”) einsetzte. Mazza findet am Tag nach dem Vorfall klare Worte für das, was am Abend zuvor passiert ist: “Ich war perplex als ich erfahren habe, dass die Benützung des Saales verboten wurde. Das macht mich betroffen und beunruhigt mich, und zwar in erster Linie als Bürger denn als Herausgeber.” Es mache ihm “große Angst, wenn Menschen Angst vor einem Buch zu haben scheinen”, so Mazza. Seine Worte, die er am Donnerstag Nachmittag auch in der RAI-Radiosendung “Zeppelin” ins Land trägt, sind inzwischen bis ins Sozialressort des Landes vorgedrungen. Dort wolle man der Sache nachgehen, berichtet Mazza. “Es ist absurd wenn es untersagt wird, an einem Ort eine – durchaus auch kontroverse – Diskussion zu führen. Warum darf über die physische Ruhigstellung von Psychiatrie-Patienten nicht geredet werden? Welches Signal wird da in die Gesellschaft gesendet?”, fragt sich der Meraner Verleger.

Für Claudio Tommasini hat sich indes “eine neue Welt aufgetan”, wie er sagt: “Mir waren diese Art von Dynamiken, die da im Hintergrund laufen, bisher unbekannt.” Der rührige Bibliothekar ist jedenfalls nicht so leicht unterzukriegen. “Selbstverständlich ist meine Lust, Buchvorstellungen zu ähnlich brisanten Themen zu organisieren, nicht gerade gewachsen”, gesteht er. “Aber”, fährt er selbstbewusst fort, “wir werden nicht aufhören, auch über heikle Sachen zu sprechen. Wir werden es weiterhin tun, und dann eben an anderen Orten.”