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Brenner – die unsichtbare Grenze hält

Die Erzählung vom Protest gegen Grenzen und die “Festung Europa”. An einem Ort, an dem es (noch) keine wahrnehmbare Grenze gibt: dem Brenner.

Ein Menschenmeer, farbenfroh, laut und von Alter und Herkunft her bunt gemischt. Es ist ein seltenes Bild, das sich am Sonntag Nachmittag am Brenner bietet. Wozu auch der Sonnenschein und die ungewohnt milden Temperaturen beitragen. Gekommen sind die über tausend Menschen, die sich ab 13.30 Uhr vor dem örtlichen Bahnhof tummeln, aus nah und fern. Südtirol, Trentino, Veneto, Mailand, ja sogar Neapel, Taranto und die Marken sind vertreten. Aus Tirol, anderen Teilen Österreichs und Deutschland kommen die nördlichen Gäste. Was all diese Menschen als Vertreter der Zivilgesellschaft, von Organisationen und Vereinen, von Studierenden, sozialen Bewegungen und der Politik im kleinen Grenzort Brenner zusammenrücken lässt, ist eine Empörung, die alle teilen: über die “Grenzen der Festung Europa”. Diese zu überwinden, dafür lohnt es sich auf die Straße zu gehen, sind die Organisatoren der Demonstration vom 3. April überzeugt.


Bunt, bunter, Brenner. Die Menschenansammlung kurz vor Beginn des Protestzugs. Foto: salto.bz

Als sich der Menschenzug mit einiger Verspätung vom Bahnhof aus in Bewegung setzt, tönt Musik aus den Lautsprechern des angemieteten Kleinlasters. Immer wieder machen die Teilnehmenden Halt, lauschen den Aufrufen der zahlreichen Sprecher. Darunter sind einige italienische Aktivisten. Sie erzählen von ihren Erlebnissen in den Flüchtlingslagern im griechischen Idomeni und im französischen Calais, davon wie sie von jenen, die nichts hatten, zum Essen eingeladen wurden. Immer wieder fallen Worte wie “vergogna” – Schande, “tristezza” – Traurigkeit und “rabbia” – Wut.

Wut auf Grenzen und Grenzkontrollen – ein Grund, “warum Menschen sterben”. Wut auf eine “Pseudo-EU”, die Menschen, “die mit uns gemeinsam eine neue Welt aufbauen wollen, festhält” und “infame Pakte mit der Türkei und Erdogan schließt”. Wut auch auf Österreichs Regierung, die durch einseitige Grenzschließungen und die Entsendung von Militär dorthin mit “Schuld an der heutigen Situation am Balkan” sei und das Schengen-Abkommen aufs Spiel setze. Die Ohnmacht angesichts der eigenen Machtlosigkeit ist in vielen Wortmeldungen zu hören. Und trotzdem werden Appelle an die Politiker dies- und jenseits des Brenners gemacht: “Am heutigen Tag ertönt vom Brenner aus ein Ruf: Nehmt euch der Grenzen und der Menschen davor und dahinter an und findet Alternativen für ein solidarisches Europa!” Mauern und Stacheldrahtzäune abbauen, humanitäre Korridore und eine menschenwürdige Aufnahme garantieren, die Milliarden an Euro, die in die Grenzsicherung investiert werden für eine “würdige Zukunft der Menschen auf der Flucht” ausgeben. Das sind nur einige der Vorschläge, die gemacht werden, während sich der Protestzug zwischen den Gebäuden des Brenner Outlet Centers Richtung österreichische Grenze schlängelt und sie schließlich überquert.


Über die “Festung Europa” und ihre Grenzen hinwegsetzen. Aus diesem Grund sind mehr als tausend Menschen am Sonntag zum Brenner gereist. Foto: salto.bz

Es ist ein Tag, an dem Grenzen überschritten werden. Rhetorisch gelingt das problemlos: “I confini per noi non esistono”, tönt es immer wieder. An einem Ort, an dem es bis zum heutigen Tag keine sichtbare Grenze gibt – die angekündigten Zäune und Container samt Soldaten des österreichischen Bundesheeres lassen nach wie vor auf sich warten. Um der eigenen Überzeugung und der Vision eines grenzenlosen Europas an einem solchen Ort Nachdruck zu verleihen, greifen einige der Mitmarschierenden zu anderen, grenzwertigen Mitteln. Einige hundert Meter hinter der österreichischen Grenze schert eine kleine Gruppe aus. Zelte und Schwimmwesten werden auf die nahegelegenen Zuggleise geworfen, als Symbol für die beschwerliche und häufig tödliche Reise vieler Flüchtlinge. Umgehend schreiten österreichische Bundespolizisten ein, entfernen Protestierende und liegen gebliebene Gegenstände von den Gleisen. Gewaltfrei.


Pfefferspray gegen Protestierende. Foto: salto.bz

Etwa hundert Meter weiter kommt der Menschenzug zum Stehen. In Sichtweite haben sich ein Dutzend Polizisten auf der Straße aufgebaut, um zu signalisieren: Bis hierhin und nicht weiter. Die Botschaft kommt bei einigen Demonstrierenden nicht gut an. Ein Block von mehreren Dutzend Personen hat sich inzwischen von der restlichen Menge abgesetzt und nähert sich Schritt für Schritt den Sicherheitskräften. Und schließlich kommt es, wie es kommen muss. Die Aktivisten – später wird von “Linksextremen”, “Anarchochaoten” oder “Radaubrüdern” die Rede sein – treffen auf die Polizisten und es kommt zu einem Handgemenge. Durch den Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray gelingt es den Ordnungshütern schnell, das Gerangel aufzulösen. Auf beiden Seiten gibt es Verletzte, doch die Spannung verfliegt so schnell wie sie sich aufgebaut hat. Während sich der große Rest der Demonstrierenden bereits zurückgezogen hat, bleiben einige Hartnäckige weiter an vorderster Front. An der Polizei-Barriere kommen sie nicht vorbei, sie versuchen es auch nicht mehr. Sondern werden anderweitig kreativ tätig. Als die Veranstaltung von den Einsatzkräften schließlich als beendet erklärt wird, prangt ein mit weißer Farbe aufgemalter Spruch auf der Teerstraße: “Refugees Welcome to EU.