Politik | Am Sonntag Selbstbestimmungsreferendum auf der Krim

Ein "Anschluss" ist keine demokratische Selbstbestimmung einer Region

Mit Südtirol unter Mussolini vergleicht der Direktor des Meraner Borodina-Zentrum Andrey Pruss die Lage auf der Krim und in der Ostukraine in der ZETT (9.3.14) und stimmt der Putinschen Marschlinie zur Übernahme der Krim kritiklos zu. Auf der Krim gibt es nicht 90% Russen, wie er sagt, sondern 58%, und auch ihre Sprachenrechte sind nicht beschränkt worden. Der Vergleich mit Südtirol ist abwegig, plausibler wäre dagegen ein Vergleich mit Österreich 1938.
Hinweis: Dies ist ein Partner-Artikel und spiegelt nicht notwendigerweise die Meinung der SALTO-Redaktion wider.

Die Sprachenfrage ist von den Machthabern auf der Krim missbraucht worden, denn in der Autonomen Republik Krim ist das Russische Mehrheits- und Amtssprache. Kiew würde gegen die eigene Verfassung verstoßen, wenn man dieses Status antastete. Nach der Entmachtung von Janukowitsch gab es im Kiewer Parlament tatsächlich einen Beschluss, dem Russischen und weiteren Minderheitensprachen (z.B. Ungarisch im Westen) in mehrsprachigen Gebieten den Status einer "offiziellen regionalen Sprache" zu entziehen. Dieser Beschluss ist von Präsident Turtschinow mit einem Veto belegt. Inzwischen arbeitet man an der Neufassung des Sprachengesetzes, die die Interessen aller Landesteile berücksichtigen soll. Der politische Konflikt in der Ukraine läuft auch nicht primär entlang der Sprachgrenze. Mit der Krim hat dies direkt gar nichts zu tun. Wer auf der Krim heute sprachlich diskriminiert ist, das sind die 350.000 Tataren, denen die Assimilierung in die russische Kultur droht. 90% der tatarischen Kinder sind gezwungen, Schulen mit russischer Unterrichtssprache zu besuchen. Das könnte Andrej Pruss schon eher an Mussolini-Zeiten erinnern.

 

Auf der Krim spielt sich in diesen Wochen vielmehr eine Art "Anschluss" ab, der mit einem demokratischen Verfahren der Selbstbestimmung wie z.B. heuer in Schottland nicht entfernt vergleichbar ist. Die im Eiltempo durchgepeitschte Abstimmung im Regionalparlament von Sinferopol, ohne freie Debatte, vielmehr unter den Gewehrläufen der internen und externen Besatzer (woher weiß Pruss, dass keine neuen russischen Soldaten auf der Krim gekommen sind und woher haben die pro-russischen Milizen ihre Waffen?), ist die Volksabstimmung am Sonntag ohne freies und faires Verfahren angegangen worden. Die Krim-Russen mögen sich mehrheitlich seit der Zerfall der UdSSR den Anschluss an Russland gewünscht haben, doch das gibt ihnen nicht das Recht, allen übrigen 42% der Bewohnern der Krim (Ukrainer, Tataren, andere Minderheiten) ihren Willen aufzudrücken. Auch Österreich kann bei einer Regierungskrise in Rom nicht einfach die Schützen aufrüsten, dann in Südtirol einmarschieren und zwei Wochen später ein Referendum abhalten.

 

Unter normalen demokratischen Umständen ist es alles andere als ausgemacht, dass sich die Mehrheit der Krim-Bevölkerung für eine Rückkehr der Halbinsel zu Russland, wie bis 1954, ausspricht. Viele der 58% Russen könnten sich ohne militärischen Druck auch anders entscheiden. Eine Abstimmung im Klima militärischer Besatzung und ohne rechtsstaatliche Bedingungen führt zu neuen Konflikten: keine Minderheitenrechte, keine korrekte Information, keine Versammlungsfreiheit, und schon gar nicht die Gewährleistung der korrekten Stimmenauszählung - soll das ein demokratisches Verfahren der Selbstbestimmung sein? Falsch ist auch die Darstellung von Pruss der beim Referendum auf der Krim gestellten Fragen: es gibt nicht drei, sondern nur zwei, die beide auf einen sofortigen oder späteren Anschluss an Russland hinauslaufen. Der Borodina-Russe in Meran braucht den Südtirolern keinen Bären aufzubinden: für ein demokratisches, rechtsstaatliches und minderheitenfreundliches Europa ist diese Art von Anschluss einer autonomen Region unakzeptabel.

 

Thomas Benedikter

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Harald Knoflach Fr., 14.03.2014 - 19:11

die sache ist - speziell auch angesichts der geschichte der krim - viel komplexer als es uns westliche als auch russische politiker und medien weismachen wollen.
ich kann thomas argumentation nachvollziehen. die "selbstbestimmung" ist eine hauruck-aktion unter dem eindruck einer militärischen intervention.
andererseits ist aber auch die position und argumentation vieler westlicher politiker und medien extrem widersprüchlich.
es ist davon die rede, dass diese referenden nicht rechtens seien, der ukrainischen verfassung widersprächen usw. bitte was hat denn in den vergangenen wochen der ukrainischen verfassung entsprochen? wir haben - ungeachtet der motive - einen klassischen putsch erlebt. wir haben eine selbsternannte übergangsregierung, die nicht demokratisch legitimiert ist und mit swoboda extrem zwielichtige gestalten in ihren reihen hat. in so einem zusammenhang die verfassung oder das völkerrecht zu strapazieren ist schon recht komisch. was ich als argument gelten lasse, ist die untragbarkeit der militärischen aktion putins. wobei ich mich erinnern kann, dass auch westliche mächte in letzter zeit ohne internationales mandat die souveränität anderer staaten verletzt haben.

Fr., 14.03.2014 - 19:11 Permalink
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Karl Trojer Sa., 05.04.2014 - 09:28

Sicher war die militaerisch konzertierte Annektion der Krim an Russland voelkerrechtlich, trotz Volksabstimmung, unzulaessig. Sicher war auch der vorausgegangene Beschluss des neuen ukrainischen Parlamentes, die amtliche Nutzung der russischen Sprache, auch in ueberwiegend russisch sprechenden Regionen der Ukraine stark zu beschneiden, voelkerrechtlich nicht ok. Wir als West-Europaeer sollten uns Russland gegenueber meines Erachtens mehr als Brueckenbauer denn als Richter engagieren. Schliesslich gaebe es viel gutzumachen, haben wir doch in den letzten Jahrhunderten den russischen Raum oefters grausam ueberfallen. So erachte ich es als politisch unfair, wenn die EU mit den USA eine Freihandelzone anstrebt, eine solche Russland aber verweigert. Kulturell sind wir den Russen naeher als den US-Amerikanern (denen ich fuer ihre Befreiung vom Nazi-Faschismus sehr dankbar bin, die aber der uebrigen Welt nach dem 2. Weltkrieg mehr Probleme als Hilfe gebracht haben). Geschichte praegt Zukunft stark mit.

Karl Trojer, Terlan

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gorgias Sa., 05.04.2014 - 11:02

Antwort auf von Karl Trojer

dass wir Russland kulturell näher seien als zu den Vereinigten Staaten. Das wohl kulturell prägenste Ereignis in den letzten 500 Jahren der Geschichte Europas war wohl die Reformation/Gegenreformation. Diese hat aber nur in den jetzt katholischen/protestantischen Teilen Europas stattgefunden.
Wer die Früchte dieser kulturellen Revolution sucht, wie Rechtsstaatlichkeit, individuelle Freiheiten und Bürgertum, wird diese in den Vereinigten Staaten eher wiederfinden als in einem Russland, das aus einer feudalistischen Mentalität noch lange nicht rausgefunden hat. Nach dem Kommunismus ist wohl Puntins versuch der gesellschaftlichen Modernisierung wohl der zweite große gescheiterte Versuch in der Geschichte Russlands.

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Oskar Egger Sa., 05.04.2014 - 18:38

Antwort auf von Karl Trojer

Für die Politik der Europäischen Union in der Krim-Krise hat Scholl-Latour nun im „Tagesspiegel“ nur noch ein „Fuck the EU“ übrig. Damit lehnt er sich offensichtlich an die Äußerung von Victoria Nuland an: Vor knapp zwei Monaten war der Staatssekretärin im US-Außenministerium in einem Telefonat mit dem amerikanischen Botschafter in Kiew ein „Fuck the EU“entschlüpft. Der Telefonmitschnitt landete im Internet und zog eine Welle der Empörung nach sich. Die US-Politikerin entschuldigte sich kleinlaut für ihren diplomatischen Fauxpas. Von Scholl-Latour ist eine Entschuldigung dagegen wohl eher nicht zu erwarten.

Sa., 05.04.2014 - 18:38 Permalink
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Oskar Egger Sa., 05.04.2014 - 18:40

Antwort auf von Karl Trojer

Scholl-Latour: Wir sollten keinesfalls gegen Amerika arbeiten, wir sind weiterhin auf die USA angewiesen. Dass es uns noch gibt, verdanken wir Amerika. Vergessen wir nicht, dass der Kalte Krieg gelegentlich an die Grenze des realen Kriegs geriet. Wir Deutsche haben allen Grund, dankbar für die Unterstützung der Amerikaner zu sein, bis hin zur Wiedervereinigung – da gibt es schließlich so etwas wie ein Gefühl des Anstandes. Aber wir sollten nicht zu irgendwelchen Konfrontationen gegenüber Russland auffordern, ob das nun wegen Pussy Riot ist oder wegen der Oligarchen. Russlands Oppositionelle haben sofort großen Applaus im Westen: Dabei geht uns das schlicht nichts an.

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Karl Trojer Sa., 05.04.2014 - 14:50

geschaetzte Frau / geschaetzter Herr Gorgias,

mir waere es wichtig, dass wir uns den Russen gegenueber nicht als Richter aufspielen, sondern vielmehr unsere eigenen Erfahrungen mit unserer Geschichte nutzen, um Frieden zu stiften. Ich kann und will den USA sicher nicht ihre Qualitaeten absprechen, doch verhaelt sich diese Grossmacht dem Ausland gegenueber anders als im eigenen Inland : Die jahrezehntelange Unterstuetzung der lateinamerikanischen Diktaturen, die Kriege in Asien, der Missbrauch des Freiheitsbegriffes der mit seinen verheerenden Finanzspekulationen insbesondere die Aermeren aussaugt und zum Kauf teuren Saatgutes zwingen will, das schonungslose Abhoeren der Privacy, der Imperativ des immer mehr, immer schneller, den wir uns aufdraengen lassen... Zur Zeit sehe ich die USA im gesellschaftlichen Defizit, uns Europaer in einem dringenden Bedarf nach mehr buergernaher Integration und Russland in die Ecke gedraengt. Russland brauechte mehr europaeische, faire Unterstuetzung in seinem Prozess vom Oligarchenstaat zur Demokratie, dabei ist zu bedenken, dass Russland nicht Putin ist.

Sa., 05.04.2014 - 14:50 Permalink